Leseprobe DIE GEBOTE DES TEMPLERS

TOM MELLEY

DIE GEBOTE DES TEMPLERS

LESEPROBE

I

Seine Sünden schienen wie faulender Aussatz an ihm zu kleben, furchtsam und verstört sahen ihn manche Mitglieder des Templerordens während der Andachten an. Einige von ihnen bekreuzigten sich sogar bei seinem Anblick, als würden sie dem leibhaftigen Satan begegnen.
Seit zwei Wochen war das regelmäßige Gebet zur Sext in der schmucklosen Ordenskirche für Ritterbruder Guillaume de Born die einzige Möglichkeit sein Gefängnis zu verlassen und sich frei zu bewegen. Zumindest das hatte man ihm noch erlaubt.
Vier Schritte lang und zwei Schritte breit maß seine trostlose, aus groben Kalksteinen gemauerte Zelle, in der er nach dem heutigen Gottesdienst ruhelos im Kreis lief. In einer Ecke befand sich eine Strohschütte als Schlafplatz auf dem festgestampften Lehmboden, ansonsten war der Raum leer. Ein kleines vergittertes Fenster ließ das Tageslicht nur spärlich hinein, dafür aber die nasse Kälte dieses Winternachmittags.
Es gab keine Wunder mehr im Heiligen Land, davon war er überzeugt. Die letzten trugen sich hier vor mehr als tausend Jahren zu und heute gab er endgültig seine halbherzigen Versuche auf, für sein eigenes Wunder zu beten. Sehr unwahrscheinlich, dass der Allmächtige ausgerechnet ihn erhören sollte. Wie so oft in seinem Leben würde er sich selbst helfen müssen.
Missgelaunt biss Guillaume in ein Stück Brot. Es war hart wie Holz und nur in Wasser getunkt halbwegs essbar.
Vorsichtig durchfuhr er mit der Zunge den halb zerkauten Brei in seinem Mund. Sandkörner und kleine Steine verirrten sich oft im minderwertigem Gerstenmehl, das in billigem Brot eigens für dienende Brüder und Knappen verbacken wurde. Nur die adligen Ritter des Tempels bekamen helle, weiche und schmackhafte Fladen aus erstklassigem Weizen.
Bis zu seiner endgültigen Verhandlung durfte er nicht mehr mit den Kriegern der Bruderschaft an einem Tisch essen, so hatte es der Großmeister Robert de Sablé verfügt. Nur einmal in der Woche erhielt er etwas Fleisch in einem rissigen hölzernen Napf, ansonsten nur klebrigen Hirsebrei, altbackenes Brot und Wasser.
Diese Schmach geschah ausgerechnet ihm, der seit über fünf Jahren als ruhmreicher Turkopolier des Ordens dreihundert leicht bewaffnete Reiter befehligte, die in heidnischer Kampfweise mit Pfeil und Bogen die schwergepanzerten Tempelritter in etlichen Schlachten gegen die Sarazenen erfolgreich unterstützt hatten.
Es war zum großen Teil sein Verdienst, dass aus diesem zusammengewürfelten Haufen von Söldnern aus aller Herren Länder unentbehrliche, erfahrene Kämpfer geworden waren. Mittlerweile genoss dieses Amt im Orden hohes Ansehen, bedeutete Macht und Einfluss. Im Kriegsfall unterstanden ihm sogar die Sergeanten, die dienenden, nichtadligen Mitglieder der Tempelbruderschaft.
Fröstelnd spuckte Guillaume ein Steinchen aus dem Fenster, während er in den Hof der Templerburg hinabsah und ein paar Knechte beobachtete, die drei große Brettertafeln auf Böcke setzten und dutzende Holzschalen klappernd auf ihnen stapelten. Die Vorbereitungen für die tägliche Armenspeisung der Brüder zur Vesper begannen.
Kein verdammter Heide konnte mich bisher umbringen, aber dieser Schweinefraß wird es schaffen. Verflucht, ich kann das Zeug kaum noch herunterwürgen.
Angeekelt schluckte er die geschmacklose Masse und spülte hastig mit einem Schluck kalten Wasser aus einem kleinen Tonkrug nach. Er wandte sich vom Fenster ab und hockte sich wieder mit dem Rücken zur Wand auf den kalten Boden.
Die Ungewissheit über sein künftiges Schicksal nagte an ihm. Schon längst hätte der Großmeister das Kapitel der Ordensbrüder einberufen müssen, um ein abschließendes Urteil über Guillaume zu fällen. Offenbar war man sich über einige Anklagepunkte gegen den Sünder noch nicht einig.
Unter den Brüdern munkelte man schon lange, Guillaume würde die strengen Ordensregeln für sich selbst zu weit auslegen, doch man ließ ihn gewähren. Seine enge Freundschaft zum Marschall des Ordens, Raoul de Garlande, und Guillaumes Ansehen als furchtloser Kämpfer und umsichtiger Anführer bewahrten ihn bisher vor Strafen.
Aber das Gewissen des Knappen Pierre zu unterschätzen war sein größter Fehler. Guillaume rümpfte die Nase, stierte auf den Boden seiner Kammer und erinnerte sich.
Der milchgesichtige, hübsche Jüngling war erst kurz in seinen Diensten gewesen. Seine unschuldigen und unterwürfig blickenden Augen, die vollen Lippen und sein weibisches Gehabe reizten Guillaume. Einen Mann wollte er aus ihm machen, aber es misslang ihm gründlich. Er befahl dem Jungen, ihn auf einer seiner heimlichen Sauftouren durch die ranzigen Freudenhäuser am Hafen zu begleiten und füllte ihn mit süßem, zypriotischem Rotwein ab bis er kaum noch stehen konnte. Dann lenkte er ihn ins Hinterzimmer einer düsteren Schenke, in dem zwei fette, kichernde Dirnen auf einer Strohschütte auf sie warteten. Pierre versank alsbald zwischen den Beinen einer der Huren und leckte sie schmatzend, als würde er einen Topf voll Honig ausschlecken. Dabei reckte er seinen wohlgeformten Hintern in die Höhe und der volltrunkene Guillaume verwechselte anfangs den Knappen mit einer der Dirnen.
Zuerst stöhnte Pierre wollüstig, als er den Schwanz seines Herrn im Hintern spürte, dann aber begann er zu winseln und jammerte. Er wusste nicht ob vor Schmerz oder Scham und versuchte vergebens sich zu wehren. Guillaume war zu besoffen und zu geil, um sich um sein Geheule zu scheren, verdrehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte seinen Kopf mit harter Hand tiefer in die Möse des kichernden Weibes. Er kam brüllend in seinem Anus und ließ lallend von ihm ab, während die Huren ausgelassen Beifall klatschten. Der geschändete Knabe raffte seine Sachen zusammen und floh halbnackt mit tränenüberströmtem Gesicht. Das hämische Gejohle der Dirnen schallte ihm laut hinterher.
Pierre eilte schluchzend in die Festung der Templer zurück. Er weckte den Kaplan der Brüder und beichtete ihm voller Scham und Ekel seine Vergewaltigung aus ehrlicher Angst vor Höllenfeuer und ewiger Verdammnis. Gleichzeitig zeigte er Guillaume als Verführer und Vergewaltiger eines Untergebenen an und entband den Geistlichen damit von seinem Beichtgeheimnis.
Der Kaplan war erschüttert, beruhigte den zitternden Knaben und schickte ihn in seine Kammer. Am nächsten Morgen unterrichtete er den Großmeister. Als hätte er auf eine solche Gelegenheit gewartet, reagierte er sofort.
Guillaume wurde nach seiner Rückkehr in den Tempel verhaftet und verlor auf der Stelle den weißen Habit, den Mantel eines Ritterbruders, das sichtbarste Zeichen seines hohen Standes. Von Stund an musste er dunkles, grobes Sackleinen tragen. Seine Waffen, Schwert, Lanze, Schild und Kettenpanzer nahm man in Verwahrung und er durfte seine Zelle nur noch zu den täglichen Gottesdiensten verlassen. Einer Kerkerhaft in Ketten stimmte der Großmeister vorerst nicht zu. Die schweren Anschuldigungen eines niederen Knappen gegen einen adligen Ritter bedurften einer eingehenden Prüfung, bevor man eine harte Maßnahme wie diese anwenden durfte.
Guillaume nutzte den günstigen Umstand, ohne Zögern aus. Der vertrauensselige und unbedarfte Knappe besuchte seinen ehemaligen Herrn während einer mondlosen Nacht in seiner Zelle. Es wäre nie seine Absicht gewesen, den Turkopolier anzuzeigen, angeblich hätte ihn der Kaplan dazu gedrängt, erklärte er stammelnd. Einzig die Sünde der Sodomie wollte er ihm beichten und dafür Absolution erhalten. Niemals hätte er Guillaume schaden wollen, es würde ihm unfassbar leidtun, dass sein Gebieter so schwer bestraft wurde.
Unbedachte Worte können größere Wunden als Schwerter schlagen. Guillaume nahm den törichten Knappen mit leidvoller Miene in die Arme, ganz so, als wolle er ihn trösten und ihm verzeihen. Doch dann brach er ihm mit einem kräftigen Ruck das Genick. Mit großer Mühe und ungesehen schaffte er die Leiche auf den Turm der Templerkirche und stieß sie hinab.
Beim Gedanken an diese Nacht zogen sich Guillaumes Augenbrauen zusammen. Sein Gesicht erstarrte zu einer verbissenen Fratze. Wäre der tumbe Bursche nicht zu ihm gekommen, könnte er jetzt noch leben. Der kleine Pierre wird nie wieder sein geschwätziges Maul als Ankläger aufreißen. Die Schuld für seinen Tod liegt nicht bei mir.
Später wurde Pierres nächtlicher Sturz vom Kirchendach von allen als nachvollziehbare Selbstbestrafung für seine Sündhaftigkeit angesehen. Dennoch stellte die Tat ein unverzeihliches Verbrechen vor Gott dar, der allein über Leben und Tod zu entscheiden hatte. Jetzt lag er in ungeweihter Erde vor den Mauern der Stadt, so wie man immer mit Selbstmördern verfuhr.
Durch das Zellenfenster drang plötzlich aufgeregtes Stimmengewirr einer großen Menschenansammlung zu ihm herauf. Erneut stand er auf und blickte hinaus.
Die Armenspeisung begann. Hungerleider, Tagediebe und Bettler, die sich jeden Nachmittag im Hof der Templerburg zahlreich versammelten, drängten sich fluchend und schreiend um die Tafeln, auf denen sich in Töpfen und Weidenkörben die Reste des Mittagsmahls der Kriegermönche befanden. Sieben dienende Brüder verteilten das Essen und schenkten dünnes Bier aus. Ein bewaffneter Tempelritter versuchte Ordnung in die vor Schmutz und Ungeziefer starrende, in Lumpen gehüllte Menge zu bringen, damit sie in ihrer Gier nicht die Tafeln umstürzten.
Diesen Aufsichtsdienst musste auch Guillaume kurz nach seinem Eintritt in den Orden vor vielen Jahren versehen. Noch heute widerten sie ihn an, diese Kranken, Verstümmelten und Gestrandeten, die froher Hoffnung ins Heilige Land gekommen waren und hier nur ein Leben in Elend fanden. Akkon war zur Stadt des Abschaums und des Gesindels verkommen, seit der Heidensultan Saladin das lateinische Königreich mit einer Unzahl von Kriegern verwüstete und tausende Flüchtlinge an die schmalen Küstenabschnitte spülte, die in christlicher Hand verblieben waren.
Die Bedürftigen zerrten sich gegenseitig Becher und Schalen aus den Händen und verschlangen hastig deren Inhalt, den viele von ihnen auf der Stelle wieder erbrachen, weil ihre dürren Bäuche und hungernden Mägen feste Nahrung nicht mehr gewöhnt waren.
Guillaume wurde schlecht, wenn er an den sauren Geruch dachte. So wollte er niemals enden. Er wandte sich vom Fenster ab und wickelte mürrisch den Rest des harten Brotes in einen leinenen Tuchfetzen und ließ ihn achtlos auf sein Bett fallen. Der Hunger war ihm vergangen und er hockte sich wieder mit dem Rücken zur Wand nieder.
Erneut beschlich ihn die bange Ungewissheit, wie man mit ihm verfahren würde. Auf Sodomie stand die schmachvolle Ausstoßung aus dem Orden, sogar lebenslange Kerkerhaft wäre möglich. Bei Verfehlungen mit Weibsbildern drohte der Verlust des weißen Habits für ein Jahr und einen Tag, wenn die Templerregeln großzügig ausgelegt werden würden. Andererseits hatte er alles in seiner Macht Stehende getan, dass es nicht zu einer Verurteilung kommen konnte. Und er hoffte auf die Unterstützung seines besten Freundes, Marschall Raoul de Garlande.
Schwere Schritte polterten auf dem Flur vor seiner unverschlossenen Tür und rissen ihn aus seinen Gedanken. Vielleicht sollte er jetzt Gewissheit darüber bekommen. Ein Tempelritter in voller Rüstung, den Helm unter seinen rechten Arm geklemmt, trat ohne Klopfen in Guillaumes unverschlossene Zelle ein.
Das blutrote Tatzenkreuz auf der Schulter des schneeweißen Mantels schien neu aufgenäht zu sein und stach Guillaume sofort ins Auge. Solch einen prächtigen Umhang nannte er früher sein Eigen. Er kratzte sich den juckenden Hals, der vom harten Saum seiner groben Kutte wundgescheuert war.
Nicholas de Seagrave. So hieß sein vorläufiger Nachfolger als Befehlshaber der Turkopolen.
Bruder Nicholas kam vor vier Jahren im Gefolge König Richards ins Heilige Land und trat kurz darauf in den Templerorden ein. Eher unscheinbar versah er bislang seinen Dienst. Guillaume war verwundert und gekränkt, als er hörte, dass ausgerechnet dieser blassgelbe Mann vom Großmeister berufen wurde, die Hilfstruppen künftig an seiner Statt zu führen.
Insgeheim hatte er sich immer über Nicholas riesigen Kopf mit den eng stehenden, tiefliegenden Augen lustig gemacht, der ihn an einen Flaschenkürbis mit zwei ins Fruchtfleisch eingedrückten Löchern erinnerte. Guillaume hielt ihn für einen entsetzlich eitlen Kriecher, der vor seinen Vorgesetzten buckelte, ihnen nach dem Mund redete und nach unten trat. Zu ihm gleichgestellten Männern hingegen war er freundlich und hatte oft einen derben Scherz auf den Lippen.
Dennoch war er ein guter Krieger in der Schlacht, tapfer und kampferfahren, darum wollte Guillaume ihn bis zu seiner Wiedereinsetzung als Befehlshaber auf dem für ihn ungewohnten Posten unterstützen. Vielleicht würde er ihn, trotz seiner Vorbehalte, so leicht lenken können.
Nicholas sah sich kurz in der kargen Behausung um, bemerkte eine lederne Geißel neben Guillaumes Strohstatt und hob sie stirnrunzelnd auf.
»Das solltest du nicht tun. Es ist nicht Teil deiner Bestrafung.«
Guillaume lächelte gespielt qualvoll und erhob sich. Er überragte den Ritter um zwei Handbreit und strich sich letzte Brotkrümel aus dem zottig gewordenen Vollbart.
»Es ist eine selbst gewollte Buße für mich, Bruder Nicholas. Ich bete zum Herrn, dass er mich durch die Schmerzen der Geißelung von den unglaublichen Anschuldigungen gegen mich befreit, weil ich mir nichts vorzuwerfen habe«, log er unverfroren. Nicht einmal, wenn er Geld dafür bekäme, würde er sich mit diesem Ding schlagen. Ein Geschenk des Kaplans, der es mit gehörigem Abstand, zornigem Blick und einem hastigen Schutzgebet auf den Lippen vor fünf Tagen in seine Unterkunft geschleudert hatte.
Der Ritter nickte verständnisvoll. »Viele der kämpfenden Brüder vermissen dich. Sie sagen, dass sie nach wie vor wieder gern unter deinem Befehl zusammenstehen wollen. Niemand glaubt daran, dass du diese schändlichen Taten wirklich begangen hast. Es gibt keine Beweise und keine Zeugen.«
Nein, die gibt es nicht, dachte Guillaume. Und der, der es bezeugen könnte, ist tot.
Nicholas warf die Geißel geringschätzig auf das Bett zurück.
»Ich jedenfalls weiß nicht, wie ich dein Amt ebenso gut wie du ausfüllen könnte. Die Verantwortung wiegt schwer, jeden Tag ist schrecklich viel zu erledigen. Bisher brauchte ich mich nur um mich selbst sorgen und jetzt soll ich einen wilden Haufen von gottlosen Söldnern im Einklang mit den harten Ordensregeln zusammenhalten und ausbilden. Syrer, Armenier, Italiener, Spanier, konvertierte Muslime. Die machen keinen Handschlag ohne Bezahlung. Die Hundsfötte sind zügellos, unersättlich und habgierig. Sie zu bändigen fällt mir nicht leicht. Hinzu kommt, ich beherrsche die sarazenische Sprache nur unzulänglich. Vermutlich nehmen mich viele deshalb nicht ernst. Vielleicht hat unser Großmeister endlich eingesehen, dass es ein Fehler war, dir den Habit zu nehmen und mich mit dem Kommando über die Hilfstruppen zu betrauen. Ich soll dich zu ihm in das Ordenspalais bringen.«
Überrascht sah Guillaume ihn an, aber Nicholas Blick flackerte an ihm vorbei zu Boden. Diese Eigenart war ihm in den letzten Wochen öfter an ihm aufgefallen.
»Ahhh … in Begleitung eines Ritters. Will er mich aus dem Orden verbannen. Oder in den Kerker werfen?«
Nicholas schüttelte den Kopf. »Nein, das denke ich nicht. Du bist seit über zwölf Jahren ein Mann des Tempels, hast unzählige Heiden zur Hölle geschickt und an zahllosen Schlachten teilgenommen. Sogar das Gemetzel bei den Hörnern von Hattin hast du überlebt, als Sultan Saladin das christliche Heer des Königreichs Jerusalem an nur einem Tag zermalmte und die abgehackten Schädel fast aller Templer des Landes auf die Speere seiner Reiter spießen ließ. Gemeinsam haben wir Akkon erobert und an der Seite König Richards die Scharen des Sultans im Wald von Arsuf besiegt. Du genießt hohes Ansehen unter den Brüdern. Ich kenne keinen besseren Krieger als dich!«
Gelangweilt zuckte Guillaume mit den Schultern.
»Bestimmt hast du recht. Meine Unschuld wird sich erweisen. Und mach dir keine Sorgen, Bruder. Bei deiner neuen schwierigen Aufgabe, die du sicher nicht lange ausführen musst, helfe ich dir wo ich kann. Ein guter Anführer dieser wilden Krieger wird man nicht von heute auf morgen. Ich habe viele Jahre dazu gebraucht, musste sogar die heidnische Sprache lernen, um die Männer zu vollwertigen Kämpfern für unsere heilige Sache auszubilden.«
Nicholas Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen und scheinbar erleichtert klopfte er Guillaume auf die Schultern.
»Deine Hilfe nehme ich mit Freuden an.«
Sie verließen die Zelle, gingen hinunter ins Erdgeschoss des Mannschaftsgebäudes und betraten den Hof. Vorbei an den zahlreichen Bedürftigen, die sich auf die Erde zum Essen niedergehockt hatten, schritten sie hinüber zum Ordenspalais, in dem sich der Kapitelsaal befand.

II

Das wuchtige Ordenspalais lehnte sich an eine dreißig Fuß hohe Verteidigungsmauer und war das größte Gebäude der Templerburg im Nordosten von Akkon. Es diente als Versammlungsort der Brüder. Dort wurden hohe Gäste empfangen und neue Mitglieder feierlich in die Gemeinschaft aufgenommen. Aus hellen Kalksteinen errichtet, streckte es sich Ehrfurcht gebietend in den wolkenverhangenen Himmel. Die Fassade schmückten sechs gewaltige Rundbögen und der mittige Eingang war üblicherweise mit einem gewaltigen eisenbeschlagenen Holztor verschlossen, kunstvoll verziert mit Schnitzereien, die den Leidensweg Christi bis zum Kreuz darstellten.
Heute war es nur angelehnt und Nicholas stemmte sich mit der Schulter kräftig gegen einen Torflügel, um ihn weit zu öffnen. Sie traten hinein.
Eine kühle Stille umfing sie und Guillaume brauchte einen Moment, um sich an die zwielichtige Dunkelheit des hohen Raumes zu gewöhnen. Bruder Nicholas deutete eine leichte Verbeugung an und entfernte sich wortlos. Hallend fiel das Tor hinter ihm ins Schloss.
Im hinteren Teil des Saals standen dreizehn hohe, einfach gearbeitete Lehnstühle in einer Reihe. Sie waren für den Konvent der Brüder bestimmt, dem acht ausgesuchte Ritter, vier dienende Brüder und der Kaplan, als Verkörperung der Anwesenheit des Allmächtigen, angehörten. Ein wuchtiges, bis unter die Decke reichendes Holzkreuz aus dunkler Eiche war über den Stühlen mittig an der Wand angebracht. Unter ihm thronte der Großmeister Robert de Sablé. Guillaume war überrascht, er empfing ihn allein.
Des Großmeisters bleiches, faltiges Gesicht schälte sich langsam aus dem Halbdunkel, als er sich vorbeugte. Seine Haare trug er kurz geschoren, ein gepflegter, eisgrauer Vollbart wallte ihm bis zur Brust. Gegen die Kälte hatte er sich in eine schwarzgraue Wolldecke gewickelt und hielt seine Hände darunter verborgen. Unter der hohen Stirn blickten wässrige, graublaue Augen auf Guillaume herab und musterten ihn eindringlich.
»Knie nieder!«
Der strenge Befehl kam unvermittelt und hallte von den glatten Steinwänden mehrfach zurück. Guillaume gehorchte, sank auf beide Knie und blickte ausdruckslos auf den rauen, mit Binsen bestreuten Fußboden.
Sie konnten einander nicht ausstehen. Guillaume war bereits Turkopolier des Templerordens, als Robert de Sablè, auf Drängen von Richard Löwenherz, zwei Jahre zuvor zum Großmeister gewählt wurde. Sein Vorgänger, der ungestüme und glücklose Gérard de Ridefort, war bei einem der vielen Gefechte um die Stadt Akkon gefallen. Lange konnten sich die Tempelbrüder nicht auf einen Nachfolger einigen. Sie verlangten nach einem Führer, der sich nicht in vorderster Reihe in Schlachten stürzte, sondern jemanden, der das Schwert nur zur Zierde seines Amtes tragen und besonnen die Geschicke des Ordens leiten würde.
Die Macht des englischen Königs verhalf schließlich dem in die Jahre gekommenem Admiral seiner Flotte, Robert de Sablé, zu dieser hohen und einflussreichen Stellung.
Zum Ärgernis für Guillaume, der um seine Freiheiten und Privilegien fürchtete, die er für sich im Lauf der Jahre ständig erweitern konnte. De Sablé dagegen nahm die Templerregeln und die heilige Mission des Ordens sehr ernst. Anfangs gab er sich leutselig und verständnisvoll, doch bald spürten die Brüder seine harte Hand. Wer ihm nicht bedingungslos gehorchte, dessen Tage waren in der Gemeinschaft gezählt.
Der Großmeister lehnte sich langsam wieder zurück.
»Nun, Bruder Guillaume … dein Vergehen ist fast zu ungeheuerlich, als dass die Brüder es dir jemals vergeben könnten«, dröhnte er. »Bei einem Weibe zu liegen ist schon ein entsetzlicher Verstoß gegen unsere Regeln. Doch mit zwei Huren und einem weiteren Tempelbruder zur gleichen Zeit im selben Raum Unzucht zu treiben, ist wahrlich Grund genug für ewige Verdammnis! Gut, dass Bruder Pierre es unserer Gemeinschaft gestanden hat. Wie bedauerlich, dass er als ketzerischer Selbstmörder auf freiem Feld in ungeweihter Erde verscharrt werden musste.«
Guillaume sah auf und blickte dem Großmeister fest in die Augen. »Ich bin unschuldig! Bruder Pierre war, wie ich richtig vermutete, lange schon der Fleischeslust erlegen. Daher folgte ich ihm, als er heimlich die Burg verließ, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Was mir tatsächlich gelang. Leider entwischte er mir und beschuldigte unverschämterweise mich seiner eigenen, unaussprechlichen Verbrechen.«
Angewidert senkte er seinen Blick. »Eine Schande für den Orden, dass ihm mehr geglaubt wurde als mir! Ich …«
»Schweig!«
De Sablés schnitt ihm harsch das Wort ab und nach einem Moment eisiger Stille sagte er: »Rechtmäßig wurdest du von mir auf Grund der Aussage von Bruder Pierre deiner Ämter vorläufig enthoben und hast damit den Habit verloren. Leider haben wir die verruchten Weibsbilder nicht gefunden. In dem von Bruder Pierre genanntem Hurenhaus am Hafen konnte sich niemand an sie oder euch erinnern. Die beiden Schandmetzen hätten die Untat möglicherweise bestätigt und du würdest auf Lebzeiten aus unserem Orden verstoßen werden!«
Der Großmeister schnappte nach Luft und fuhr sichtlich unzufrieden fort: »Nun, da niemand mehr den verwerflichen Sündenfall bezeugen kann und du nach wie vor deine Unschuld beteuerst, steht das Wort eines Tempelritters gegen das eines Selbstmörders. Wir müssen nun wahrlich neu über deinen Fall nachdenken.«
Ja, das musst du wohl, lächelte Guillaume in sich hinein. Pierres Genick zu brechen war leichter als gedacht. Ihn schnell und ungesehen fünf Dutzend Stufen auf den Turm zu tragen und dann hinunterzuwerfen war dagegen reichlich anstrengend. Und als ehemaliger Admiral solltest du wissen, dass es in jedem großen Handelshafen mehr Huren als Fische gibt. Außerdem waren die Dirnen damals wie ich bis zum Hals voll mit schwerem Rotwein. Selbst wenn man sie noch aufstöbern würde, könnten sie sich sicher nicht mehr erinnern.
»So höre denn meinen Entschluss: Du sollst eine Gelegenheit bekommen, dich neu für die Sache unseres Ordens zu beweisen. Wir wissen um deine Kenntnis der Sprache der Ungläubigen. Aus diesem Grund durftest du bisher die zum wahren Glauben konvertierten Heiden befehligen, die für uns kämpfen. Dein Wissen aus alten Schriften, welches du früher im Kloster erworben hast, spricht ebenfalls für dich. Die Brüder schätzen deinen Mut, deine Kampferfahrung und auch deine guten Verbindungen zu wichtigen, sarazenischen Kaufleuten. Ich habe eine äußerst dringliche Aufgabe für dich. Höre mir genau zu: Was ich dir gleich zu sagen habe, verrate niemandem. Tust du es dennoch, so wird das für dich schreckliche Folgen haben.«
De Sablés Blick durchbohrte ihn. Guillaume kostete es einige Mühe seine aufkeimende Freude zu unterdrücken und den feuchten Froschaugen emotionslos standzuhalten. Die Vorwürfe gegen ihn schienen tatsächlich vom Tisch zu sein. Endlich würde diese Schande ein Ende für ihn haben.
»Willigst du ein, einen schweren, streng geheimen Auftrag für unseren Orden auszuführen?«
»Wo immer mich der Auftrag des Höchsten hinführt, ich werde seinen Wunsch erfüllen und schweigen«, antwortete Guillaume und machte eine bedeutungsvolle, kurze Pause.
Ein wohl leichter Auftrag wäre, dir mit beiden Daumen deine dicken Augen in deinen zerknitterten Schädel. zu drücken, du Sumpfkröte, dachte er und setzte laut hinzu: »Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen gib die Ehre. Ich werde tun, was immer du von mir verlangst.«
Der Großmeister nickte befriedigt bei der Erwähnung des Templerwahlspruchs. Gebieterisch reckte er seinen Kopf in die Höhe: »So befehlen wir dir: Reite als Pilger verkleidet mit reichem Vermögen an Silber und Gold nach Jerusalem. Suche dort heimlich nach Mitgliedern der heidnischen Sekte der Assassinen. Einige von ihnen sollen dort unerkannt leben und die Verbindung zu ihrem Führer Sinan, dem Alten vom Berge, aufrechterhalten. Sie waren uns in der Vergangenheit tributpflichtig, wie du weißt, und dem Tempel schon einmal zu Diensten …«
De Sablé stockte. Nicht zu viel durfte Guillaume wissen. Der Mord an König Konrad vor einem halben Jahr war sein bisher tollkühnstes und erfolgreichstes Werk gewesen, seitdem er Großmeister geworden war.
Guillaume bemerkte das Zögern Robert de Sablés. Die Vermutungen, der englische König Löwenherz und die Templer hätten das Attentat auf den unbeugsamen Konrad von Montferrat in Auftrag gegeben, um ihren Einfluss im Königreich Jerusalem zu erhalten, könnten also wahr sein. Der Neffe von Löwenherz, Graf Heinrich von Champagne, wurde nur acht Tage später mit der Witwe des Ermordeten verheiratet und regierte seitdem in Akkon als König. Diese Gerüchte hatten sich schnell unter den Baronen des Heiligen Landes herumgesprochen und kursierten in jedem Wirtshaus der Stadt.
»Wir brauchen nun erneut die Dienste der Assassinen«, fuhr de Sablé fort. »Aber wir können nicht zu ihrem Anführer durchkommen, der auf der Feste Masyaf weit im Norden in der Nähe der Stadt Antiochia im Gebirge haust. Der Weg ist durch die Heidentruppen des verfluchten Saladin versperrt. Jerusalem dagegen hat der Sultan seit einigen Monaten für christliche Wallfahrer geöffnet. Dort wirst du diese Meuchelmörder sicher aufspüren. Wie ich hörte, warst du vor Jahren in ihrer Festung und hast mit ihnen verhandelt, also wirst du ihre Befindlichkeiten kennen. Du musst eine Einigung mit ihnen finden, auf dass sie uns von einem schlimmen Feind der Christenheit befreien: Bohemund von Antiochia. Beauftrage sie mit der Tötung des Fürsten. Wenn es gelingt, so sollst du wieder ein Ritterbruder unter uns sein, den weißen Mantel zurückerhalten und in dein Amt als Turkopolier erneut eingesetzt werden.«
Der Großmeister lehnte sich zurück und neigte den Kopf zur Seite, um die Wirkung seiner Worte auf den gefallenen Templer zu beobachten.
Guillaume war froh, dass er vor ihm kniete und nicht stand, als er diese Ungeheuerlichkeit vernahm. Er wankte ein wenig, fing sich aber sofort wieder und senkte gespielt demütig seinen Blick nach unten.
Was für ein abgrundtief hinterhältiger und abscheulicher Plan.
Die gottesfürchtigen Tempelritter wollten tatsächlich die gefährlichsten aller Heiden mit einem Mord beauftragen. Ausgerechnet Bohemund von Antiochia, ein rechtgläubiger Fürst, Herr einer der letzten Städte des Heiligen Landes die noch in christlicher Hand waren. Das wäre ein ungeheurer Verstoß gegen die Templerregeln, die eindeutig besagten, das Leben von Christen unter allen Umständen zu schützen.
»Was hat der Fürst verbrochen, dass …«
Harsch schnitt ihm de Sablé das Wort ab: »Das hat dich nicht zu kümmern. Du musst nur wissen, er paktiert mit den Heiden zu unseren Ungunsten. Und … er wurde von unserem Oberherrn, seine Heiligkeit dem Papst, als schlimmer Ketzer gebrandmarkt. Zum dritten Male ist er verheiratet, obwohl beide seiner früheren Frauen noch leben. Er ist ein stotternder Hurenbock, zahlt seine Schulden nicht und alle Mühen, ihn auf den rechten Pfad Gottes zu bringen, waren vergebens. Unsere Botschafter hat er verhöhnt, gepeinigt und eingekerkert. Mehrmals haben wir ihn gebeten von seinem gottlosen Treiben abzulassen. Am Ende sprachen wir Warnungen aus, die er in den Wind schlug. Er hat keinen Respekt, keine Gottesfurcht und keine Ehre. Einen anderen Weg gibt es nicht mehr!«
Der lange Bart des Großmeisters hing voller Speichelspritzer, so sehr hatte er sich ereifert. Er griff zu einem Silberbecher, der neben ihm auf der Armlehne stand und trank einen kräftigen Schluck des unverdünnten Rotweins.
Guillaume nickte bedächtig. Er kannte den fürstlichen Stotterer gut und noch besser kannte er dessen schöne, machthungrige und im Bett schier unersättliche Frau Sibylle. Vor Jahren war er ihr begegnet. Damals hinterließ sie mit ihren spitzen Fingernägeln tiefe, blutige Kratzer auf seinem Rücken. Dass Bohemund Schulden bei den Templern in schwindelerregender Höhe hatte war nichts Neues für ihn. Er selbst stimmte vor vier Jahren für die Bewilligung der Mittel im Konvent der Brüder, als Bohemund das Geld zur Befestigung Antiochias zum Schutz vor den Armeniern und Türken benötigte und die Templer um einen Kredit bat.
Einen zwischenzeitlichen Vorschlag zur Überlassung zweier Burgen in seinem Herrschaftsgebiet an den Orden hatte der Fürst bereits entschieden abgelehnt und meinte, an Rückzahlung wäre in diesen wilden Zeiten nicht zu denken.
Starrsinnig im Geiste und verschlagen wollte Bohemund offensichtlich weiter Zeit schinden, bis Gras über die Sache gewachsen wäre. Doch Templer vergessen nie.
 »In Gottes Namen. Ich werde gehorchen und den Auftrag zur vollsten Zufriedenheit der Brüder ausführen,« sagte Guillaume, ehrfürchtig den Kopf senkend.
Der Großmeister lächelte zufrieden. Größtes Glück würde dem Orden aus dieser Tat erwachsen. Der säumige und unflätige Fürst war nicht nur ein ständiges Ärgernis, auch sein unabhängiges Fürstentum sollte dem zusammengeschrumpften Königreich Jerusalem einverleibt werden. So sah es eine geheime Übereinkunft vor, die de Sablé mit König Heinrich abgemacht hatte. Der König wiederum stellte den Templern weitreichende Privilegien in der zweitgrößten, christlich beherrschten Stadt des Heiligen Landes in Aussicht, sollte der Plan gelingen.
»Schon morgen, in der neunten Stunde wirst du dich einem Pilgerzug anschließen, der vom Haus der Ritter des Hospitals aus zur Heiligen Stadt aufbrechen wird. Für diese Zeit befreien wir dich von unserer Kleiderordnung. Stutze deinen Bart etwas und trage immer eine Kappe über dem Kurzhaar, auf dass du nicht als einer der Unseren erkannt wirst. Du erhältst ein Maultier, eintausend goldene Bezant als Lohn für die Ungläubigen und dreihundertsechzig Deniers in Silber für deine eigenen Unkosten.«
De Sablé senkte seine Stimme und beugte sich nach vorn: »Enttäusche uns nicht, Guillaume. Ich sage dir in aller Deutlichkeit: Erzähle niemanden von dem Auftrag. Schwöre beim Herrgott und unserer Bruderschaft, dass du eher sterben wirst, als das Geheimnis zu verraten. Niemanden, keinem Bettler, keinem König, keinem Ungläubigen, keinem Christen. Auch nicht in höchster Not! «
»Bei Gott, ich schwöre!« Seine Stimme war so fest wie sein Blick in Bruder Roberts prüfend zusammengekniffene Augen.
»Erhebe dich, Bruder Guillaume. Und geh mit Gott.« Der Großmeister lehnte sich zurück und winkte ihn hinaus, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. Mit weichen Knien stand Guillaume auf und verließ den Saal.
Nach dem Abgang Guillaumes vernahm man im kühlen Palais der Templer nur noch den rasselnden Atem des Großmeisters, der sich langsam die klammen Hände rieb.
De Sablé war sich sicher, dass Guillaume die ihm zur Last gelegten Taten begangen hatte, allein er konnte es nicht beweisen, sonst wäre er diesen ärgerlichen, eitrigen Pickel an seinem Arsch bereits los. Sodomie war eine Todsünde. Bruder Pierre berichtete dem Kaplan die Untaten unter Tränen bis in jede Einzelheit. Zu schade, dass er sich selbst zu Tode stürzte. Oder sich dummerweise von seinem skrupellosen Bettgenossen umbringen ließ. Es wäre Guillaume zuzutrauen, dass er seine Hände hier im Spiel hatte.
Guillaume, der ehemalige Turkopolier, spaltete die Gemeinschaft. Bei einigen Brüdern genoss er weiterhin beträchtliches Ansehen. Sie glaubten nicht an die schlimmen Vorwürfe und hielten sie für pure Verleumdung, weil Guillaume offen für gewinnbringende Verhandlungen statt blutigem Krieg mit den Muslimen eintrat. Andere wiederum hielten ihn gerade deshalb für einen Verräter am wahren Glauben und gönnten ihm die harte Bestrafung.
Den respektlosen Sünder für einige Zeit aus dem Tempel zu entfernen und ihn gleichzeitig mit einer gefährlichen Mission zu beauftragen, von der er höchstwahrscheinlich nicht zurückkehren würde, war die beste Entscheidung.
De Sablé hörte ein scharrendes Geräusch, sah sich um und bemerkte Bruder Nicholas, der durch einen Seiteneingang geschlichen war und sich während des Gesprächs mit Guillaume hinter einer der sechs mächtigen Säulen versteckt gehalten hatte, die das schwere Tonnengewölbe des Saals trugen.
Der Großmeister war nicht überrascht. Er erhob sich von dem knarrenden Holzstuhl und drückte sich den schmerzenden Rücken durch. Er konnte nicht mehr lange sitzen, seit er kürzlich berauscht von süßem, starkem Rotwein von seinem Streitross fiel. Gut, dass er damals allein unterwegs auf einem Spazierritt um die Mauern Akkons gewesen war und niemand diese Schande gesehen hatte.
Nein, ich bin nicht zu alt, obwohl ich meine Knochen bei jeder Bewegung spüre. Ich kann immer noch die Geschicke hier leiten wie ich es will und für richtig halte. Niemand macht mir meinen einflussreichen und ruhigen Altersplatz streitig und bringt die Brüder in Verruf. Schon gar nicht ein Hundsfott wie Guillaume, dieser einfältige Lügner und gottlose Hurenbock.
Er drehte sich zu Bruder Nicholas und fragte ihn unvermittelt: »Sage mir, wird er es tun?«
»Natürlich wird er. Er ist ein Ritter des Tempels und muss deine Befehle jederzeit befolgen«, antwortete er. »Ihr seid ein schlauer Mann, Großmeister. Durch diese Aufgabe seid Ihr ihn eine Weile los und hier kehrt wieder Ruhe ein. Außerdem wird ein bedeutender Feind unseres Ordens durch Guillaumes gute Beziehungen zu den Assassinen sicher zur Hölle fahren und niemand wird uns damit in Verbindung bringen. Wenn doch, so hat er als gefallener Sünder, der bereits das Habit verloren hat, die gesamte Schuld allein zu tragen. Niemand würde ihm Glauben schenken. Möglicherweise kommt Guillaume selbst dabei um und …«
»… und du wirst seinen Posten dann in Gänze übernehmen«, fuhr de Sablé nickend fort: »Du hast Recht. Er sollte diesen Auftrag nicht überleben. Wenn er unversehrt nach Akkon zurückkehrt, wird er wohl hier sterben müssen. Du bist mir persönlich dafür verantwortlich. Es geht um das Wohl und Ansehen unserer Bruderschaft und ist somit ein gottgefälliges Werk. Guillaumes lasterhafter Lebenswandel ist uns seit langem ein Dorn im Auge. Wir wissen genau, dass er der fleischlichen Sünde ergeben ist und alle Zeugen seiner schamlosen Vergehen wahrscheinlich selbst beseitigt hat. Er zweifelt meine Entscheidungen an und untergräbt mein Ansehen. Nennt mich eine alte, schwache Sumpfkröte! Meine Ohren sind überall! Denkt womöglich daran mein Amt zu übernehmen, weil er die Hälfte der Heeresmacht unseres Ordens befehligt hat und angeblich gewinnbringender mit den Heiden verhandeln kann! Pah!«
Speichel sabberte aus seinen verachtungsvoll herabhängenden Mundwinkeln.
Guillaume ist besser als viele andere, dachte Nicholas, weitaus besser als du. Aber nicht besser als ich, doch ist er gefährlich für uns beide. Deshalb muss sein Kopf fallen.
»In Gottes Namen, so soll es geschehen. Guillaume wird den Tempel niemals wiedersehen.«
Robert de Sablés Lippen zuckten und verbreiterten sich zu einem wohlwollenden Lächeln.
»Es war eine gute Wahl von mir, dich an seiner Statt zum Turkopolier zu ernennen, Bruder. Du bist wahrhaft treu, tugendhaft und unserer heiligen Mission ergeben und wirst es weit bringen in unserer Gemeinschaft. Ich erwäge bereits, dich als Verwalter unseres Ordens nach Antiochia zu entsenden, sobald der Fürst durch die Hand der Assassinen zur Hölle gefahren ist. Jetzt geh, sorge dafür, dass Guillaume alles Notwendige für seine Reise vom Komtur erhält. Und wiege ihn in Sicherheit.«
Nicholas konnte seine Freude kaum unterdrücken, verbeugte sich ausgesprochen tief und verließ forschen Schrittes den spöttisch grinsenden Großmeister.
Währenddessen schlurfte Guillaume langsam über den mittlerweile menschenleeren Hof der Templerburg. Die Armenspeisung war beendet, die bedürftigen Hungerleider hatten das Gelände bereits verlassen müssen. Das hohe Eingangstor war wieder fest verriegelt
Es war Abend geworden. Kühler, salziger Wind strich vom Meer her über die hohen Mauerkronen der Templerfestung. Tief sog er die frische Luft in seine Lungen und raffte seine Kutte mit klammen Fingern über der Brust zusammen. Eine unbestimmte Ahnung kroch in ihm hoch. De Sablè könnte ihn nach Erfüllung dieses mörderischen Geheimauftrags töten lassen, um alle Spuren auf eine Beteiligung des Ordens an einem plötzlichen Tod des Fürsten Bohemund zu beseitigen. Er musste das in Erwägung ziehen und Vorsorge treffen, damit es nicht soweit kommen würde.
Ein Pfund reines Gold in Münzen als Judaslohn für diesen Mord ist wahrlich viel. Damit ließe sich Besseres anfangen. Der alte de Sablé sollte sich nicht zu sicher fühlen.
In seinem Kopf nahm ein Plan Gestalt an. Nachdenklich kraulte er sich den Vollbart, während er gemächlich hinüber zu den Mannschaftsunterkünften schlenderte.
»Ich hatte dich gewarnt.«
Die tiefe Stimme hinter ihm gehörte Raoul de Garlande, dem Marschall des Ordens, seinem Befehlshaber. Diesem Mann war das gesamte Heer der Templer und somit auch Guillaume mit seinen Turkopolen unterstellt.
Guillaume drehte sich um und blickte in das pockennarbige, blasse Gesicht des Ritters, dessen große und kräftige Gestalt ihn um einen halben Kopf überragte.
Das hellbraune, fast rötliche Haar war kurz geschnitten. Unterhalb seiner hohen Stirn befanden sich äußerst ungewöhnliche Augen. Hellbraun mit einem kleinen schwarzen Spalt, der den unteren Rand der Pupillen reptilienartig teilte. Guillaume nannte sie einen hilfreichen Geburtsfehler, denn den meisten Menschen flößten diese Augen Angst und Respekt ein, ohne dass Raoul den Mund öffnen musste.
Der baumlange Raoul stammte aus einem vornehmen fränkischen Adelshaus, das in der Umgebung von Paris seinen Sitz hatte. Zu seinen Vorfahren und Verwandten zählten einflussreiche Fürsten und hohe königliche Beamte. Im Gegensatz zu Guillaume, der als Bastard aus der Verbindung eines einfachen Ritters und einer hübschen Dienstmagd geboren wurde.
Beide waren vor mehr als zwölf Jahren fast gleichzeitig ins Heilige Land gekommen und gemeinsam dem Orden beigetreten. Viele Gefechte überstanden sie siegreich Seite an Seite gegen die Heiden. Das harte Leben im Orden schweißte sie zusammen und oft hatte Guillaume den zuweilen etwas vergesslichen und fahrig handelnden Raoul als Kommandeur der Truppen loyal und selbstlos unterstützt.
Dennoch, Raoul verstand es hervorragend, mit Umsicht, Geschick und außergewöhnlicher Beredsamkeit seine Beförderung zum Marschall zu erreichen. Der zwei Jahre jüngere Guillaume wurde unter ihm zum Turkopolier. Raoul befehligte das Ordensheer mit beachtenswerter Tapferkeit und Mut, die Männer mochten ihn wegen seiner Zugänglichkeit. Stets hatte er ein offenes Ohr für die Anliegen und Sorgen seiner Krieger.
Bisher verband Raoul und Guillaume eine tiefe Freundschaft. Nach der Berufung des neuen Großmeisters schien sie ein wenig abgekühlt zu sein. Im Unterschied zu Guillaume kam Raoul ausgezeichnet mit Großmeister Robert aus. Nach dessen Eintritt in den Orden und seiner kurz darauffolgenden Wahl als oberster Gebieter der Templer sah man sie oft zusammen. Der Marschall half ihm sich in der strengen Gemeinschaft zurechtzufinden und verrichtete für de Sablé bereitwillig jeden Dienst. Guillaume fand das befremdlich und hielt das Verhalten von Raoul für übertriebene Unterwürfigkeit.
»Ich sagte dir schon vor einiger Zeit, du musst wachsam sein. Dein unzüchtiger und sorgloser Lebenswandel gefällt nicht jedem hier«, sagte Raoul und kratzte sein kantiges Kinn.
»Was sprichst du da, Freund? Du selbst hast einige Dinge getan, die kaum besser waren. Ich stand immer fest hinter dir, so wie es gute Waffenbrüder halten sollten«, gab Guillaume vorwurfsvoll zurück. Seit seiner Verhaftung hatte Raoul weder mit ihm gesprochen, geschweige ihn in seiner Zelle besucht.
»Das mag sein. Jetzt aber sind andere Zeiten und jeder muss vorsichtig handeln. Bruder Robert ist mächtiger als du denkst«, antwortete Raoul und wich seinem verwunderten Blick aus.
»Noch kannst du auf meine Hilfe zählen. Dieser geheime Auftrag für dich, den übrigens ich dem Großmeister vorgeschlagen habe, ist eine letzte Prüfung. Führe ihn befehlsgetreu aus und du wirst im Orden bleiben dürfen. Wenn nicht, kann ich meine schützende Hand nicht mehr über dich halten.«
Guillaume musterte ihn erstaunt.
Doch, das wirst du. Ich weiß zu viel über dich. Dass du im Frankenreich rechtsgültig verheiratet bist, eine Frau und zwei kleine Kinder zurückgelassen hast, denen du veruntreutes Geld aus den Kassen des Ordens regelmäßig über mir bekannte, venezianische Kaufleute heimlich zukommen lässt. Allein das würde für deine ewige Verbannung aus der Gemeinschaft ausreichen. Hinzu kommt noch deine lüsterne Liebschaft mit der mannstollen Ruzan.
Die verwitwete, armenische Bauerntochter verdingte sich in einer der vielen Schänken der Stadt als Bedienung und Gelegenheitshure und wurde von Raoul ebenfalls reichlich mit Silber für ihre körperlichen Dienste versorgt. Guillaume verkuppelte einst die beiden und bezahlte ihm die erste Nacht mit ihr. Das geschah nach dem Ende eines Besäufnisses mit einem pisanischen Pferdehändler, der mit ihnen den Abschluss eines Kaufvertrages für ein halbes Dutzend wertvoller Schlachtrösser in der Gastwirtschaft feierte.
Seitdem ging der Marschall einmal in der Woche zu ihr und vögelte sich die Seele aus dem Leib.
»Du weißt schon, dass es um die Ermordung eines christlichen Fürsten geht?«, fragte Guillaume leise und verschwörerisch.
»Ich weiß, dass es dem Gedeihen unseres Ordens dient. Tu einfach, was man dir befiehlt«, antwortete Raoul ungewohnt streng und sah an ihm vorbei.
Guillaume fühlte die Kälte des Abends deutlicher als zuvor und seine plötzlich trocken gewordenen Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln.
»Das mache ich, du kannst dich auf mich verlassen, Bruder Raoul. Ich werde die Aufgabe erfolgreich erfüllen. Und danach besser überdenken, wem ich künftig vertraue und mich weitaus vorsichtiger verhalten. Du wirst mir darin ein Vorbild sein. Meine harte Bestrafung hat mich geläutert, nie wieder will ich solche Schmach erleben. Ich bitte dich nur, hab ein Auge auf Bruder Nicholas. Achte darauf, dass er während meiner Abwesenheit die Turkopolen gut führt. Es scheint mir, als wäre er damit etwas überfordert.«
»Das könnte … sein«, sagte der Marschall zögernd. »Sorge dich nicht. Geh jetzt und bereite dich auf deine Reise vor. Der Komtur weiß Bescheid und zählt bereits das Geld.«
»Selbstverständlich, ich breche morgen in aller Frühe auf. Bruder Thibaut, diesem Geizknochen, wird das Herz bluten, mir so viel Gold zu geben«, versuchte Guillaume zu scherzen.
»Er ist ein gewissenhafter Mann«, entgegnete Raoul abweisend.
Guillaume zuckte leichthin mit den Schultern.
»Ja, ja, das ist er. Richte bitte Grüße von mir an Ruzan aus, wenn du sie siehst.« Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen.
Die Augen des Templers verengten sich bei der Erwähnung des Namens seiner heimlichen Geliebten, doch er nickte wortlos mit versteinertem Gesicht.
Sie reichten sich die Hände zum Abschied. Nachdenklich geworden setzte Guillaume seinen Weg zu den Mannschaftsunterkünften fort, während Raoul de Garlande mit finsterem Blick in Richtung des Burgtores schritt.

III

Ismael lehnte sich zufrieden zurück, wischte sich die überanstrengten, tränenden Augen und betrachtete sein Tagwerk. Der zarte Armschmuck, den er für die Hauptfrau des Statthalters von Jerusalem, Emir`Izz ad-Din Jurdik, gearbeitet hatte, war fertig. Drei fein gearbeitete, filigrane Schlangen aus Gold, die sich ineinander verflochten, vereinigten sich zu einem glänzenden Reif. Ihre Köpfe lagen eng an ihre Körper geschmiegt und ihre winzigen Augen aus funkelnden Rubinen glitzerten in den Strahlen der Nachmittagssonne, die durch das geöffnete Fenster seiner Werkstatt auf den hölzernen Arbeitstisch fielen.
Es war nur ein kleiner Auftrag, aber von beträchtlicher Bedeutung für den alten jüdischen Goldschmied, der ein anerkannter Meister seines Fachs war. Der Emir bestellte nicht zum ersten Mal wertvolles Geschmeide bei ihm. Diese Gewogenheit des Fürsten zog weitere Bestellungen aus dem Umfeld seines prächtigen Hofes nach sich. Mit jedem zufriedenen Kunden wurde sein Ansehen größer und gereichte der stetig wachsenden, jüdischen Gemeinde in der Stadt zum Vorteil.
Als oberster Lehrer und Rabbi von Jerusalem sorgte Ismael unter anderem für die Aufnahme und Unterbringung von Einwanderern seines Volkes aus aller Welt in Jerusalem. Gute Beziehungen zum muslimischen Statthalter und seinen Bediensteten vereinfachten viele Behördengänge für die Neuankömmlinge.
Der mächtige Sultan, Salah ad-Din Yusuf, hatte vor sechs Jahren die Heilige Stadt von den Christen zurückerobert. Sie war vollkommen entvölkert und daher ermutigte er insbesondere Juden, sich erneut hier niederzulassen. Seinem Ruf folgten viele von denen, die überall in den christlichen Ländern unter Not und Verfolgung litten und endlich wieder in Frieden an den Stätten ihrer Vorfahren leben wollten. Auch Ismael gehörte einst zu ihnen.
Mittlerweile nahmen diese Tätigkeiten für die Zuwanderer so viel Zeit in Anspruch, dass er kaum noch dazu kam in den alten Schriften seines Volkes zu lesen, die er so liebte und von denen sich Dutzende im Regal hinter ihm stapelten.
Ismael kraulte sich den dichten, weißen Bart und ein Lächeln vertiefte die zahlreichen Falten in seinem Gesicht. Er schaute blinzelnd aus dem Fenster, durch das er fröhliches Vogelgezwitscher und lachende Kinder hörte. Ein lauer Wind strich in seine aufgeräumte kleine Werkstatt im ersten Stock des Hauses und trug den süßlichen Duft des blühenden Mandelbaums hinein, der unten im kleinen Innenhof wurzelte.
Das Schicksal hat sich zu meinen Gunsten gewendet. Jerusalem, die Heilige Stadt der alten Wunder, verdient ihren Beinamen.
Dabei war es erst zwei Jahre her, dass er selbst als heimatloser Flüchtling hier ankam.
Mühevoll und gefährlich war die Reise aus den kalten deutschen Landen bis hierher gewesen. In Köln hatte er fast fünfzig Sommer seines Lebens in Frieden verbracht, bis fanatische christliche Wallfahrer Juden als Jesusmörder verleumdeten und mitverantwortlich für den Verlust der Heiligen Stadt an die Muslime machten. Wilde Haufen beutegieriger Söldner, die zu arm für eine Pilgerreise ins Heilige Land waren, begannen seine Freunde und Nachbarn reihenweise auszuplündern und schließlich aufzuhängen. Die Bürger Kölns und der Adel zeigten sich machtlos und ließen die Schlächter ungeschoren. Wohl auch, weil sie so ihre Schulden bei den geldverleihenden Juden bequem loswurden. Ismael entkam dem Gemetzel mit einigen weiteren Überlebenden und sah, trotz seines fortgeschrittenen Alters, keine andere Möglichkeit als ein neues Leben zu beginnen und zu seinem jüngeren Bruder Esau nach Jerusalem zu fliehen.
Esau war Witwer, lebte dort allein mit seiner Tochter Leah und betrieb ein einträgliches Geschäft als Geldwechsler. Er hatte seinen Bruder lange vor den furchtbaren Ereignissen eingeladen, künftig in der Stadt ihrer Vorfahren bei ihm zu wohnen. Leider sah er ihn nie wieder. Ein paar Tage bevor Ismael nach langer Flucht in Jerusalem ankam, starb Esau an einem Herzleiden und hinterließ ihm sein Haus im Judenviertel und ein beachtliches Geldvermögen.
Dafür übernahm Ismael die Vormundschaft für seine unverheiratete Nichte Leah, denn es waren keine weiteren Verwandten mehr in der Stadt, die sich um die junge Frau hätten kümmern können. Ihre beiden älteren Brüder trieben bereits seit langer Zeit Handel mit Getreide und Wolle im fernen Antiochia.
Ismael eröffnete eine Goldschmiedewerkstatt im Haus und schon nach kurzer Zeit florierte das Geschäft auf Grund seiner hohen Kunstfertigkeit zu günstigen Preisen. Die jüdischen Mitbürger bewunderten seine Belesenheit, Weisheit und Gottesfürchtigkeit und erhoben ihn bald darauf zu ihrem Rabbi.
In seiner neuen Heimat wurde er nicht mehr verfolgt und gedemütigt. Hier stand er unter dem Schutz des Sultans, zahlte die Dschizya, eine Kopfsteuer, welche alle geduldeten Nichtmuslime in seinem Reich entrichten mussten und fühlte sich glücklich wie selten im Leben. Köln und seine mordlüsternen Bürger verblassten langsam in seiner Erinnerung. Vergessen aber konnte er sie nie.
Ein ungeduldiges Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
»Onkel, Onkel! Mach bitte auf!«
Ismael stemmte sich vom Hocker und schlurfte zur fest verrammelten Holztür seines Arbeitszimmers. Viele Kostbarkeiten lagerten hier in der Werkstatt, im Obergeschoss des bescheidenen Hauses: Vorräte an kleinen goldenen und silbernen Barren, Rohdiamanten, Lötzinn, Bleikugeln, Kupferdraht und seltene Werkzeuge zur Herstellung von Schmuck und Geschmeide. Hinzu kamen alte, unbezahlbaren Papyrusrollen, in denen die Geschichte des jüdischen Volkes von Beginn an aufgezeichnet war.
Vorsichtshalber hatte er gegen Diebe und Einbrecher schwere Riegel aus Hartholz von innen und außen anbringen lassen, die er jetzt aus ihren Haspen hob.
Er öffnete die in den Angeln knarrende Tür einen Spalt und sah seiner Nichte Leah in die dunkelbraunen Augen.
»Was gibt es, Kind? Ich möchte das Licht noch nutzen, um zu lesen. Wenn du bereits das Essen fertig hast, bring es mir bitte herauf.«
Leah schüttelte ihre halblangen, dunkelbraunen und lockigen Haare. »Nein, Onkel, du hast Besuch. Ein Muslim steht vor unserem Haus und will dich dringend sprechen.«
Ismaels aschgraue Augenbrauen hoben sich. Ein Muslim. Das kam selten vor. Vielleicht ein Bote des Statthalters. Der Armreif war erst für den nächsten Tag bestellt, der Emir war aber für seine Ungeduld bekannt.
»Bitte ihn doch herein. Ich bin gleich unten. Biete ihm einen süßen Tee an und sieh, dass er es bequem hat.«
Leah nickte und lief rasch die Treppe hinab.
Gutes Kind, dachte Ismael und ging zum Fenster, um es mit dem schweren hölzernen Fensterflügel und einem Querbalken fest zu verschließen. Obwohl, Kind kann ich sie wahrlich nicht mehr nennen. Seine Nichte zählte immerhin gute achtzehn Sommer und war eine zierliche schöne und erwachsene Frau, wie er sich eingestand. Ihre Mutter starb, als sie zwölf Jahre alt war. Sie musste früh Verantwortung für den Haushalt ihres Vaters übernehmen und sich um ihre beiden Brüder kümmern, ehe sie nach Antiochia auszogen, wo sie ihr eigenes Leben führten. Gewissenhaft führte Leah die Geschäftsbücher ihres Vaters. Sein unvermittelter Tod nach kurzer Krankheit traf sie hart. Umsichtig, freundlich und herzensgut umsorgte sie nun ihren Onkel, der froh war sie in seinem hohen Alter als tatkräftige Hilfe bei sich haben zu dürfen.
Das Gehen fiel ihm nicht mehr leicht, seine knirschenden Kniegelenke machten ihm zu schaffen. Er schlurfte zurück in die Werkstatt, legte den Armreif in ein mit grüner Seide ausgeschlagenes Kästchen aus Walnussholz und verstaute es sorgfältig in der Schublade seines Arbeitstisches. Beim Hinausgehen zog er die Tür seiner Kammer kräftig hinter sich zu und verriegelte auch diese sorgfältig mit einem Vorhängeschloss. Dann stieg er vorsichtig die steile Treppe hinunter, die direkt in den Wohnraum des Hauses führte.
Auf den ersten Blick sah er, dass auf seinen hübsch bestickten Kissen, die Leah sorgfältig auf einem Teppich mitten im Raum aufgeschichtet hatte, kein Abgesandter des großen Sultans lümmelte und seinen Tee schlürfte. Der Unbekannte trug ein zerschlissenes, ausgeblichenes, grünes Gewand. Sein schmutziger grauer Turban und die vor Dreck starrenden Holzsandalen ließen ihn eher wie einen der dunkelbraunen syrischen Müllarbeiter aussehen, die jeden Abend zum Misttor fuhren, um den Abfall der Stadt vor die Befestigungsmauern in tiefe Löcher und Erdspalten zu schütten. Er schien noch sehr jung zu sein. Klein war er, unterernährt und unter einem Nest schwarzer Locken, die sich wirr über der Stirn kräuselten, blickten ihn unruhige, dunkle Augen an. Auf seiner Oberlippe und den glatten Wangen war der Ansatz eines Bartes nur zu erahnen.
Als der Muslim Ismael kommen sah, sprang er auf und ein schwerer, in einen zerfetzten Lumpen gehüllter Gegenstand polterte von seinem Schoß auf den Boden. Sofort hob er ihn auf, presste ihn an die Brust und verbeugte sich tief. Zu tief, fand Ismael, selbst arabische Müllfahrer behandelten Juden oftmals weniger aufmerksam als ihre Fracht.
»As-salamu alaikum!«, krächzte der Araber hastig hervor und schaute unterwürfig in das zerknitterte Gesicht Ismaels, der ob der Begrüßung verwundert den Besucher musterte. Muslime grüßten Juden nie zuerst. Ihr Stolz gegenüber den ungläubigen Schriftenlesern ließ das nicht zu.
»Shalom«, antwortete Ismael kühl und bedeutete dem Fremden sich wieder zu setzen. Er selbst ließ sich ihm gegenüber auf einem der zahlreichen farbenfrohen und weichen Kissen nieder.
»Bist du Ismael, der weise Goldschmied und der Ismael, den man unter euch Juden den alten Rabbi nennt?«, fragte der Besucher. Ein unsicheres Lächeln verzog seinen Mund und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne, deren tadelloser Zustand in bemerkenswertem Gegensatz zu seinem abgerissenen Äußeren standen. Seine dunklen Augen zuckten und der unstete Blick schien überall im Raum Gefahr zu sehen.
»Nein, ich bin der Kalif von Bagdad«, antwortete Ismael schroff. »Natürlich bin ich es.«
»Ja, selbstverständlich. Verzeih …« Der Araber beugte sich nervös nach vorn.
»Mein Name ist Harit ibn Tharit ibn Harit ibn ...«
»Bitte verschone mich mit deiner Familiengeschichte! Ein Name reicht mir«, unterbrach der Rabbi ihn unhöflich, denn er bemerkte, wie klumpiger Dreck von den schmutzigen Sandalen auf den kostbaren, mit Seidenfäden durchwirktem Teppich bröselte. Das schönste Schmuckstück des ansonsten bescheiden eingerichteten aber äußerst gepflegten Hauses.
Sein Gegenüber nickte beflissen. »So nenne mich einfach Harit.«
»Nun denn, was willst du von mir?«
Der Muslim sah sich nach allen Seiten um, als hätten die Wände Ohren und flüsterte: »Ich bin gekommen, um dir etwas zum Kauf anzubieten. Etwas Wertvolles denke ich, ich glaube sogar, etwas sehr Wertvolles!«
Ismaels Haltung versteifte sich. Wieder einer dieser Leute, die glaubten, dass Juden alles kaufen würden, was sich in der bedeutenden, von unzähligen Pilgern besuchten Stadt an Trödel täglich anhäufte.
»Verlass mein Haus, ich kaufe nichts. Egal was du da bei dir hast!«, sagte er barsch.
Enttäuscht biss sich Harit auf die Unterlippe und hob den prall gefüllten Lumpensack auf seinen Knien an. »Bitte, wirf einen Blick darauf! Du wirst es nicht bereuen!«
Seufzend nickte Ismael. Barmherzigkeit und Mitleid waren selten genug in dieser Welt, und der junge Mann vor ihm hatte anscheinend beides nötig.
Obwohl niemand außer ihnen beiden im Zimmer war, schaute Harit noch einmal im Raum umher. Dann wickelte er das Paket vorsichtig aus. Zum Vorschein kam eine schwarzgrau glänzende Figur, etwa eine Elle lang, eine halbe Elle breit und eine halbe Elle hoch. Ein geflügelter Löwe mit Menschenkopf, der beide gefiederten Arme weit nach vorn streckte und das Haupt halb gesenkt hielt. Ein Cherub.
Ismaels Gesicht überflog ein Staunen. Eine offenbar sehr alte, wunderbar gearbeitete Nachbildung eines der Wächter, die Gott vor dem Paradies postierte, um den Baum des Lebens zu bewachen. So wurden die Cherubim in alten Überlieferungen beschrieben. Christen und Muslime nannten sie Engel. Für die Juden stellten sie die Beschützer der heiligen Bundeslade dar, das Symbol ihres Glaubensbündnisses mit Gott. Dieser Schrein aus Akazienholz beinhaltete die in Stein gemeißelten zehn Gebote des Herrn, die Moses am Berg Sinai vom Höchsten selbst empfangen hatte. Die Bundeslade trug zwei Cherubim aus purem Gold auf ihrem Deckel und den alten Schriften nach sollte genau in ihrer Mitte die Anwesenheit Gottes auf Erden ihren Sitz haben.
Dieses größte Heiligtum seines Volkes galt als verschollen, geraubt vor tausenden von Jahren.
Vorsichtig nahm er den Cherub aus den Händen des Muslims. Erstaunlich schwer wog die Figur. Fast drei Pfund schätzte er und betrachtete sie fachmännisch von allen Seiten.
Harit freute sich über das Interesse des Juden und seine Augen strahlten. »Sie besteht vielleicht aus Stein oder gar Kupfer. Ist sie nicht hübsch? Ich habe dir nicht zu viel versprochen, nicht wahr? Sieh nur, sogar ein wenig Gold ist daran.«
Möglicherweise aus Blei gegossen, vermutete Ismael bei sich, denn seine Finger verfärbten sich dunkel, als er etwas fester mit den Händen über die Figur strich. Oder Bronze. An einigen Stellen waren tatsächlich winzige Spuren von Gold zu erkennen. Der Materialwert schien gering. Offensichtlich eine äußerst gelungene Kopie des Originals, zumindest stimmten Form und Größe genau mit den Beschreibungen überein.
»Nun, was meinst du? Es ist doch wertvoll, oder? Kaufst du es?« Die Fragen prasselten aus ihm heraus, Harit wurde ungeduldig.
»Hmmm … das scheint Blei oder Bronze zu sein. Ein Guss. Damit kann man nicht viel anfangen. Sie ist nett anzusehen und damit du mein Haus schnell wieder verlässt, gebe ich dir einen Dirham dafür. Mehr ist sie leider nicht wert«, sagte Ismael und wollte die Figur zurückreichen. Abwehrend hob Harit die Hände.
»Drei Dirham und bei Allah, sie ist dein. Ich habe noch mehr solcher Dinge draußen auf meinem Karren. Vielleicht können wir einen Gesamtpreis machen?«
Ismael hob die Schultern. »Ach, ich weiß nicht. Woher hast du sie? Hoffentlich hast du sie nicht gestohlen, denn sonst würde ich mich strafbar machen, wenn ich von dir kaufe.«
Harit frohlockte innerlich. Wahrscheinlich hatte er einen weiteren Käufer gefunden, nachdem er schon am Vormittag einem fränkischen Pilger im Suq, dem größten überdachten und quirligen Markt der Stadt, eine ähnliche Figur für einen Dirham verkauft hatte. Der Ungläubige fragte ebenfalls nach der Herkunft des Menschenvogels, gab sich aber mit Harits Auskünften sehr zufrieden.
»Ich arbeite für den Emir unseres großmütigen Sultans, `Izz ad-Din Jurdik, Allah schenke ihm Gesundheit! In seinem Auftrag räume ich den Schutt weg, den die ungläubigen Jesusanbeter, die verdammten Nazarener, dort vor Jahren hinterlassen haben. In den riesigen Kellern unter dem al-haram asch-scharif, dem edlen Heiligtum, von dem aus Mohammed in den Himmel stieg, erledige ich meine Arbeit. Die Moschee wird gerade neu hergerichtet und unter ihr befinden sich hohe Gewölbe mit viel Geröll und Steinen. Die bösartigen Tempelritter, Allah strafe sie für ihre Verbrechen an uns Rechtgläubigen, haben dort bis zu ihrer Vertreibung durch unseren ruhmreichen Sultan Pferde gehalten. Wenn ich etwas finde, was die Ungläubigen in ihrer Hast zurückließen, dann muss ich es meinem Vorarbeiter melden. Er entscheidet, ob es für unseren Emir von Wert ist. Wenn nicht, dann kann ich damit machen was ich will. Meist fahre ich das Gerümpel hinaus zu den Müllgruben.«
Er war nicht ganz ehrlich mit seinen Erklärungen. Um seinen kargen Lohn aufzubessern, wollte er die restlichen Fundstücke verkaufen. Den Vorarbeiter nach einer Erlaubnis dafür zu fragen, traute er sich nicht. Es war kein Diebstahl in seinen Augen, dennoch war er vorsichtig und achtete sehr darauf, seine Geschäfte möglichst unauffällig zu tätigen.
Harit räusperte sich, nahm einen Schluck Tee und fuhr fort: »Bei meiner Arbeit entdeckte ich unter einer Treppe eine unscheinbare Holztür, hinter der sich ein kleiner Raum befindet. Dort gewahrte ich diese verstaubte Figur und weitere Gegenstände. Der Vorarbeiter meinte, sie wären wertlos, aber ich wusste es besser, packte sie auf meinen Karren und hier bin ich!«
Ismael sah ihn nachdenklich an. Der Araber grub in den heiligsten Stätten des jüdischen Volkes, die kein Jude mehr betreten durfte, seit die Christen Jerusalem erobert hatten. Auch die jetzigen muslimischen Herrscher ließen das nicht zu. Der Ort, von dem er so unbefangen sprach, war mit Sicherheit der sagenhafte Pferdestall des König Salomon. Die al-Aqsa Moschee war auf den Grundmauern des Tempels der Juden errichtet worden, den barbarische Römer vor über tausend Jahren zerstört hatten. Anschließend wurden die Juden von ihnen vertrieben und in alle Welt zerstreut. Der Beginn eines langen Leidensweges.
Den stolzen und unbarmherzigen Tempelherren diente der Platz seit der Eroberung Jerusalems vor fast hundert Jahren als Hauptsitz und Kirche im Heiligen Land, bis der Sultan Salah-ad-Din sie aus der Stadt jagte. Um die Gewölbe des Tempelberges rankten sich seit alten Zeiten immer noch Legenden um kostbare Schätze, wirklich gefunden wurde aber nie etwas.
Ismaels Neugier erwachte. Vielleicht wäre da unten noch mehr zu entdecken als nur der eine Cherub aus Blei? Möglicherweise … die mächtige Bundeslade? Unmöglich … Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Bei dem Gedanken schoss ihm das Blut in den Kopf und er begann zu schwitzen.
»Vertrau mir, Rabbi. Wie ich schon sagte, der Müll wurde vom Aufseher der Bauarbeiten bereits durchsucht und mir wieder übergeben. Ich kann damit tun und lassen was ich will. Du kannst bedenkenlos von mir kaufen. Komm, ich zeige dir noch den Rest!«
Mit Sorge hatte Harit die Veränderung im Gesicht des Juden gesehen, das unvermittelt hochrot geworden war. Auf Hehlerei stand die Todesstrafe im Reich des Sultans. Der Goldschmied musste natürlich misstrauisch sein.
Ismael nickte zustimmend. »Schon gut, gehen wir zu deinem Karren. Zeige mir, welche Dinge du noch feilzubieten hast.« Er stellte den Cherub vorsichtig auf den Boden.
Harit erhob sich freudig und half dem Alten auf, dessen Knie beim Aufstehen vernehmlich knackten.
Sie verließen das Haus und betraten gemeinsam die menschenleere Straße, die sich durch das verwinkelte, kleine Judenviertel im Norden Jerusalems schlängelte. Nur das Zirpen einiger Zikaden und ihre leisen Schritte auf dem Sand waren zu hören. Es wurde Abend. Die blutrote Sonne stand tief über den Giebeln und warf lange Schatten in die Gasse. Viele Bewohner der Stadt hatten die Tagewerke beendet und sich in ihre kühlen Behausungen zurückgezogen.
Der Muslim führte Ismael zu seinem klapprigen Handwagen, der zwei Häuser weiter rechts neben einer verschlossenen Toreinfahrt stand. Dabei schaute er ständig nach allen Seiten, als ob er befürchtete verfolgt zu werden. Zum Glück konnte er niemanden entdecken. Beruhigt schlug Harit eine zerflederte Wolldecke auf der Ladefläche zurück.
Zum Vorschein kamen mehrere rostige Nägel, ein verbogenes Kruzifix aus Eisen, silbern glänzende Teile eines Kerzenleuchters, zwei gut erhaltene Steigbügel und eine Vielzahl an Tonscherben mit christlichen Symbolen. Das Wertvollste in diesem Müllhaufen schienen jedoch vier Ringe aus dunklem Metall zu sein, die lose an kunstvoll geschmiedeten Scharnieren hingen.
»Das alles überlasse ich dir für …« Harit machte eine einladende Handbewegung, »… für zehn Dirham.«
Er bemerkte den unentschlossenen Gesichtsausdruck des Juden, der skeptisch die angeblichen Schätze musterte und setzte hinzu: »Gut, ich sehe, es könnte dir gefallen und ich bin kein Unmensch. Acht Münzen sollen genügen.«
Ismaels Augen wanderten über den Müll und sein Blick blieb an zwei hellgrauen Steinplatten haften, deren Ecken unter dem Schutt im hinteren Teil des Karrens hervorragten. Er trat näher und vorsichtig zog er eine von ihnen in das rötliche Licht der untergehenden Sonne.
Sie war etwa zwei Ellen hoch und eine Elle breit, zwei Daumen dick und wog, als er sie anhob, etwa doppelt so schwer wie der Cherub.
Er wischte die anhaftende Staubschicht mit den Händen vorsichtig ab. Kleine, eingehauene Schriftzeichen kamen zum Vorschein.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er sie zu entziffern. Er kannte diese Schrift. Alte, zerfaserte Papyrusrollen mit ähnlichen Buchstaben lagerten oben in seiner Sammlung und beschrieben die Handelsbeziehungen eines längst untergegangenen Seefahrervolkes zum Reich der Pharaonen. Langsam strichen seine Finger über den seltsam warmen Stein und zeichneten die Linien der Schrift nach.
Ich bin JHWE, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
Die Übersetzung der sorgfältig eingemeißelten phönizischen Keilschriftzeichen ließ ihn erschauern. Mit diesem Satz begannen die zehn Gebote Gottes! Die ersten fünf waren hier eingemeißelt. Hastig zog er die zweite Steinplatte hervor, betrachtete sie ebenfalls eingehend und schüttelte ungläubig sein weißes Haupt. Wie auf der anderen Tafel fand er die fünf anderen Gebote eingeritzt.
Dem Rabbi wurden die Knie weich, er taumelte benommen zurück und hielt sich an der Schulter des Muslims fest.
»Was ist mit dir?«, fragte Harit erschrocken. »Du siehst aus, als würdest du in den feurigen Abgrund der Hölle sehen!«
Ismael konnte nicht antworten. Donnernd grollten die Worte des Sefer Schemot, des zweiten Buch Mose wie ein entfesseltes Unwetter durch seinen Kopf: »Du sollst in die Lade das Gesetz legen, das ich dir geben werde. Und es war nichts in der Lade als nur die zwei steinernen Tafeln des Mose, die er hineingelegt hatte am Horeb, die Tafeln des Bundes, den der HERR mit Israel schloss, als sie aus dem Ägyptenland gezogen waren.«
Wenn ihn nicht alles täuschte, lagen vor ihm wirklich die hervorragend erhaltenen Überreste des Allerheiligsten: Der Inhalt der Bundeslade. Der längst verloren geglaubte, größte Schatz der Welt!
Der Überlieferung nach soll die Lade von heidnischen Babyloniern geraubt worden sein und wurde seitdem nie mehr gesehen. Aber … ist das wirklich der heilige Inhalt der Bundeslade, der hier liegt? Es scheint so … und ausgerechnet ein ungläubiger Muslim soll der auserwählte Finder sein? Ich muss Gewissheit haben … Oh Gott ... Wenn das wahr ist …
Ismael war sprachlos. Hin und her gerissen in seinen zweifelnden Gedanken hörte er wie von Ferne den jungen Araber von Bezahlung plappern. Als ob Geld jetzt wichtig wäre. Fahrig griff er in den Beutel an seinem Gürtel und zählte mit zitternden Fingern zwanzig silberne Dirham ab.
»Ich … ich kaufe das alles hier. Es muss aber noch eine zweite Figur mit Flügeln geben. Hast du diese auch gefunden?«, presste er hervor.
Harit konnte beim Anblick der vielen Münzen zunächst kein Wort herausbringen. Er hielt die glänzenden Geldstücke nah an seine Augen. So viel verdiente er nicht in drei Wochen schwerer Schufterei. Am liebsten wollte er sich selbst ohrfeigen, dass er den Juden nicht früher aufgesucht hatte. Stattdessen hatte er einem nazarenischen Pilger die erste Figur für einen offenbar viel zu niedrigen Preis verkauft.
In Gedanken sah er den hochgewachsenen Mann mit den blauen Augen vor sich, wie dieser sichtlich erfreut die günstig erstandene Statue in seinem Pilgersack verstaute und schnell im Gewühl der lärmenden Menschenmenge auf dem Markt untertauchte.
»Ja, da gibt es noch eine zweite Figur und ich kann sie dir vielleicht bringen. Aber das müsste dir noch einmal …«, Harit stockte, »…sagen wir … zwanzig Dirham wert sein?«
»Gut! Die sollst du bekommen … Den zweiten Cherub muss ich auf jeden Fall haben«, sagte Ismael mehr zu sich selbst als zu dem überraschten Araber, der sofort überlegte, wie er den Pilger am schnellsten finden könnte. Für zwanzig Silberstücke würde er die ganze Stadt bis in den letzten Winkel absuchen, um das schlechte Geschäft mit ihm rückgängig zu machen.
Der Goldschmied hielt den Atem an, legte die beiden Steintafeln vorsichtig übereinander, hob sie vom Karren und trug sie wie ein Arm voller roher Eier in sein Haus.
Bei Allah, was immer es mit diesem Trödel auf sich hat, er ist seltsamerweise sehr wertvoll für den Alten. Harit zwang sich lieber nicht neugierig nachzufragen. Möglicherweise käme der anscheinend verwirrte Jude wieder zur Besinnung und könnte sein Geld zurückfordern. Er packte die restlichen Gegenstände in die schmutzige Decke und folgte dem Goldschmied schweigend.
Mitten im Wohnzimmer stehend hielt Ismael die schweren Steinplatten fest an sich gedrückt und bedeutete Harit mit einer Kopfbewegung das Bündel an der Wand in einer Ecke des Raumes abzustellen.
»Geh jetzt und hole mir die zweite Figur! Bring sie mir … so schnell es geht, bitte …«, flüsterte der Goldschmied. Dicke Schweißtropfen verklebten seine Haare, seine Stimme ging in die Höhe und er rollte die Augen. »Ich werde dir dafür zahlen, was du verlangt hast!«
»Schon gut ... beruhige dich. Ich besorge sie dir. Aber du musst bis morgen früh warten«, sagte Harit und blickte ihn sorgenvoll an. Hoffentlich erlebt er den nächsten Tag. Wankt wie ein Schilfrohr im Wind, das dürre Männchen.
»Was? Ja, gut … bis morgen … versprich es mir!«
»Ich verspreche es«, sagte Harit unsicher, denn er wusste nicht genau, ob er sein Wort halten könnte. Doch er würde auf jeden Fall alles versuchen, dem Pilger die zweite Statue für drei, vielleicht auch fünf Dirham wieder abzukaufen. Dann blieben ihm immer noch unfassbare fünfzehn Silbermünzen. Einen derart lohnenden Handel durfte er sich wirklich nicht entgehen lassen.
Harit hatte es plötzlich eilig. Unter hastigen Verbeugungen verabschiedete er sich und verließ das Haus des Juden mit vollem Geldbeutel und einem zuversichtlichen, frohen Gesicht.
Ismael stand einsam inmitten des Raumes und mochte die für ihn unsagbar kostbaren Tafeln nicht ablegen. Er fand keinen besseren Platz für die Gebote als den an seinem Herzen. Der Schweiß lief ihm die Wangen hinunter., sein Kopf dröhnte. Durch die unfassbaren Empfindungen der Freude hindurch blitzten schemenhafte Zweifel auf. Zweifel an der Echtheit, Zweifel an der Wirklichkeit, Zweifel an der Wahrheit.
Und wenn es nur eine Nachahmung ist? Eine Fälschung? Ich muss es herausfinden. Heute noch!
Leise summend kam Leah herein. Sie hatte warme Brotfladen mit Olivenöl zubereitet und gedachte den vermeintlichen Boten des Sultans zu einem bescheidenen Abendessen einzuladen. Gastfreundschaft war ein hohes Gut in diesem Haushalt. Obwohl der fremde Besucher in ihren Augen eher wie ein junger Tagelöhner auf Arbeitssuche aussah. Sie lernte jedoch früh, dass man vielen Menschen ihre Stellung nicht immer nur an der Kleidung ansah. Ihr Onkel trug beispielsweise sehr bescheidene, fast ärmlich wirkende Gewänder, die nichts über sein hervorragendes Ansehen als bedeutender Rabbi und durchaus vermögenden Handwerker in der Heiligen Stadt verrieten.
Sie erschrak als sie das wächserne, verschwitzte Gesicht ihres Onkels bemerkte, der zwei graue Steinplatten so fest an seine Brust drückte, dass seine Fingerknochen weiß hervortraten und jeden Moment aus den Gelenken zu springen drohten.
»Ist alles in Ordnung? Wo ist denn unser Gast?«, fragte sie besorgt.
»Nichts, mein Kind. Nichts, es geht mir gut. Der kleine Muslim ist gegangen«, antwortete er abwesend und plötzlich ging ein Ruck durch ihn. »Ich muss sofort in meine Werkstatt! Ich will nicht gestört werden, hörst du! Von Niemandem!«
Er drehte sich abrupt um und stapfte entschlossen die Treppe hinauf.
Leah sah ihm verdutzt und ein wenig beunruhigt nach.







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