Leseprobe DER KRIEGER DES HERRN

TOM MELLEY


 DER KRIEGER DES HERRN


LESEPROBE  


I

 

Längst hatte er aufgegeben, Tage wie diesen zu verfluchen. Mit dem Gesicht im tiefen Schnee brachte er nur ein Ächzen hervor, wälzte sich auf den Rücken und keuchte weißen Atem stoßweise aus seinen Lungen. Die eisige Kälte durchdrang seinen Lederkoller bis zur verschwitzten Haut und kühlte wohltuend die brennenden Striemen auf den Schultern. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, um die bleiche Wintersonne nicht mehr zu sehen, die heute kraftlos gegen graue Wolkenschleier ankämpfte und von seinem früheren, behaglichen Klosterleben geträumt.

Doch dazu war keine Zeit.

Walter rappelte sich aus dem knietiefen Schnee auf die Füße, stemmte mit der Linken seinen schweren Schild hoch und wehrte zahllose Hiebe eines fauchenden Schwertes ab. Kleine Eichenholzspäne splitterten ab und schwirrten durch die frostige Luft. Sein rechte Hand umklammerte eine zwei Fuß lange Keule aus harter Erle und er versuchte, seinen Gegner mit einem Schlag gegen die Schienbeine zu treffen.

»Das ist ja lächerlich und leicht zu durchschauen«, rief Hildebrand, sprang leichtfüßig zurück, drehte sich zur linken Seite und klatschte die flache Klinge schmerzhaft auf Walters Schulterblätter. Er fiel erneut vornüber in den hohen Schnee und wünschte sich weit weg von diesem Ort.

»Bei Gott, das ist keine Schreibfeder, sondern eine Keule! Benutze sie, wie ich es dir gezeigt habe.«

Walter hob den Kopf, setzte sich auf, spie Schnee und Eis aus und entgegnete trotzig: »Wenn es ein Schwert gewesen wären, dann hättet Ihr jetzt nur noch ein Bein, Meister. Die Keule ist zu schwer!«

»Die Keule dem Knappen, das Schwert dem Ritter«, gab Hildebrand zurück, ohne weiter auf den Vorwurf einzugehen. Sein Schützling hatte zweifellos Recht, auch wenn er es nicht wahr haben wollte. Verflucht, ich werde alt und kann kaum noch gegen einen ehemaligen Klosterschüler bestehen.

Vor knapp zwei Jahren war Burgvogt Hildebrand vom Vater des Jungen, Ritter Hugo von Westereck, befohlen worden, seinen zweitgeborenen Sohn aus dem Kloster Loccum zu holen und zum Knappen auszubilden. Ursprünglich sollte Walter eine geistliche Laufbahn einschlagen, doch sein älterer Bruder Hermann litt seit einem Jagdunfall an einer unheilbaren Krankheit im Rücken, die ihn ans Bett fesselte und langsam dahinsiechen ließ. Hugo befürchtete, er würde später das Erbe seines Geschlechtes nicht antreten können und vorsorglich rief er seinen Jüngsten zurück an den Hof.

Hildebrand hielt das damals für keinen schlauen Einfall. Walter war von Kindesbeinen an in der Obhut von Zisterziensermönchen aufgewachsen. Einen verweichlichten, achtzehn Jahre alten Kuttenträger zum vollwertigen Ritter und Kämpfer auszubilden schien ihm unmöglich zu sein. Doch er hatte sich geirrt. Walter fügte sich anfangs unwillig in sein Schicksal, beugte sich aber letztlich dem Willen des Vaters und lernte schneller als vermutet das Kriegshandwerk.

»Steh auf, wir kehren zur Burg zurück«, befahl Hildebrand mürrisch und setzte hinzu, »heute Abend wird es ein Festmahl zu Ehren der Heiligen Drei Könige geben. Ich will nicht zu spät kommen.«

»Keine Sorge, ich auch nicht. Dann kannst du deinen Wanst mit Wein vollfüllen, bis du umfällst, und ich habe wenigstens morgen Ruhe vor dir«, murmelte Walter, erhob sich und klopfte sich Schnee von der dünnen Leinenkutte.

»Das hab ich wohl gehört, du Schandmaul! Wir werden ja sehen, wer von uns beiden zuerst unter die Tafel rutscht. Jetzt nimm dein Zeug, wir gehen zu den Pferden. Wird Zeit, dass du unter deinen Schafsmantel kommst, bist ja schon ganz blau im Gesicht.«

Hildebrand folgte dem erleichtert seufzenden Knappen und sie stapften zu den beiden Tieren, die unter einer mächtigen Eiche angebunden, die am Rande des verschneiten Burgangers ungeduldig schnaubten. Unwillkürlich musste der Ritter lächeln. Sein hochgewachsener Schützling war mittlerweile so flink mit dem Übungsschwert, wie mit seinem Mundwerk. Die tägliche, harte Ausbildung hatte aus ihm einen sehnigen Mann geformt, der ausgezeichnet mit Pferd, Schild und Lanze umging.

Wie ein Mönch verhielt er sich längst nicht mehr. Alle Frauen auf der Burg, junge Mägde wie gereifte Dienerinnen, waren vernarrt in seine stets ein wenig schelmisch blickenden hellblauen Augen, sein dichtes, wirres Haar und seine schlanke Gestalt. Etlichen fleischlichen Versuchungen hatte er mit Vergnügen nachgegeben, wie Hildebrand erfahren hatte.

Mit zitternden Fingern riss Walter seinen Wollmantel von einem der Pferde und warf ihn sich über. Dann verzurrte er Schild und Keule am Sattel und hielt seinem Herrn den Steigbügel beim Aufsteigen. Anschließend schwang er sich auf sein Reittier und sie ritten langsam hinauf zur Burg.

Die Feste Westereck, auf einem felsigen Bergvorsprung gelegen, der leicht ins Tal abflachte, wurde seit kurzem umgebaut und erneuert. Zu ihren Füßen, im weitläufigen Ginstertal, schlängelte sich die uralte Handelsstraße entlang, die Lübeck und Magdeburg verband, und dem Burgherrn gewinnbringende Zolleinnahmen bescherte.

Eine dreißig Fuß hohe und fünf Fuß breite Ringmauer verband vier runde Türme, zwei ragten unfertig wie abgebrochene Zahnstümpfe in den bleigrauen Himmel. Verschneite Holzgerüste lehnten sich an ihre Seiten, auf einem reckte ein einsamer Kran seine Arme über die halbfertige Brüstung. Der doppelstöckige Palas, von dessen Schornstein die bläuliche Rauchwolke eines Kaminfeuers kerzengerade aufstieg, und alle Wirtschaftsgebäude waren fertiggestellt, ebenso das trutzige Torhaus mit Fallgitter und Zugbrücke.

Der geplante, breite Burggraben dagegen war kaum fünf Fuß tief und mit Schnee gefüllt. Dieser hart hereingebrochene Winter hatte alle Bautätigkeiten jäh mit hartem Frost und Schneefällen unterbrochen.

Im letzten Jahr standen auf diesem Platz nur der aus groben Feldsteinen gemauerte Bergfried und einige Lehmhütten, eingesäumt von Holzpalisaden. Aber diese Wehr bot nur wenig Schutz in Kriegszeiten.

Die Pferdehufe dröhnten dumpf auf der vereisten Zugbrücke, das Geräusch hallte laut in den Rundbögen des Torhauses wider. Durch eine verwinkelte, von hohen Mauern gesicherte Gasse gelangten die beiden Reiter über den engen Innenhof der Burg vor den Palas. Ein Geruch nach verbrannten Holzscheiten, gebratenem Fleisch und würziger Suppe hing in der eisigen Luft.

Walter saß ächzend ab und wäre gern sofort zur Küche gelaufen, dem wärmsten Platz in der gesamten Anlage. Doch wie jeden Tag nach einem Ausritt führte er zuerst ihre Pferde in den Stall, um sie abzusatteln, zu tränken und anschließend sorgfältig mit einer harten Bürste zu striegeln.

Anschließend würde er sich mit einer selbstgefertigten Heilsalbe einreiben, um die Schmerzen der rotblauen Striemen auf Armen, Beinen und Schultern zu lindern, die von den Waffenübungen herrührten.

Das Rezept verriet ihm einst der Infirmarius, des Klosters Loccum, Bruder Gerold. Ein Andenken an seine dortige Schulzeit. Die heilsame Mischung bestand aus Baumharz, Schweinefett, Honig sowie getrockneten Ringelblumen. Sie half ausgezeichnet, leider benötigte er sie zu oft.

Hildebrand stieg vom Pferd und warf ihm die Zügel zu.

»Bring …«

»… sie in den Stall, ja, ja …«, unterbrach ihn Walter und rollte   die Augen.

»Du kannst tatsächlich Gedanken lesen. Solltest heute Abend mit den Gauklern auftreten, die dein Vater für das Fest bestellt hat, Beifall wäre dir sicher«, höhnte der Ritter. »Tu deine Pflicht, wir sehen uns nachher beim Essen. Vergiss dein Messer ni cht, du wirst mir den Braten bei Tisch schneiden, so wie es sich gehört.«

Der Ritter nestelte seinen Schwertgurt zurecht und durch eine doppelflügelige Eichentür betrat er den Palas.

Lärm flutetet durch den Eingang in den Hof. Lautes Gelächter, das Klappern von Geschirr, Bierfässer polterten über den Steinboden und schwere Tischplatten aus Buchenholzbrettern wurden krachend auf Holzböcken platziert. Das Fest der Heiligen Drei Könige wurde vom Gesinde vorbereitet.

Einige Spielleute übten mit Flöten, Dudelsäcken und Trommeln ihren bevorstehenden Auftritt. Die schwere Tür schloss sich wieder hinter Hildebrand und dämpfte die Geräusche. Walter wandte sich den Pferden zu und führte sie in den Stall am äußersten Ende des Hofes.

Zu seiner Verwunderung wurde der niedrige Raum von zwei Talglichtern erhellt, die auf den Simsen der mit Brettern und Moos abgedichteten Fenster standen. Achselzuckend brachte er die Tiere in ihre Gatter, löste Zaumzeug und Sättel und hängte diese an eisernen Wandhaken auf.

»Ich könnte dir helfen sie zu striegeln«, flüsterte es hinter ihm. Er fuhr erschrocken herum und schaute in die glänzenden grünen Augen eines Mädchens. Maria, die einzige Tochter des Steinmetzmeisters Hartmut, der über eine eigene Werkstatt und Wohnraum innerhalb der Burg verfügte, solange die Bauarbeiten andauerten. Sie trug zwar den Namen einer Heiligen, verhielt sich aber wenig gottesfürchtig, sobald sie mit Walter allein war.

Rotblonde Haare kringelten sich unter ihrer schmucklosen Leinenhaube hervor, ihr rundes Gesicht war mit Sommersprossen übersät und lächelte ihn an. Sie trug ein Gewand aus grob gewebtem grauen Wollstoff, eng mit einem dünnen Ledergürtel um ihre breiten Hüften geschnürt und schob ihren Oberkörper nach vorn. Walter wusste, wie ihre Brüste unter dem Kleid aussahen, und wie sie sich anfühlten.

»Das ist wirklich nett von dir, Maria«, sagte er und strich ihr über die Wange. »Aber das kann ich allein.«

»Ich könnte auch dich striegeln«, gurrte sie und befühlte seinen Unterleib.

»Heute nicht. Ich bin ausgelaugt und fühle mich wie zerschlagen«. Er wehrte sanft ihre Hand ab.

»Das kommt davon, weil du gestern Nacht hier mit einer Küchenmagd durch das Heu getobt bist. Gerlind hat mir erzählt, was du mit ihr für Verrenkungen geübt hast. Komm, im Gegensatz zu der groben Schlampe werde ich ganz sanft sein.«

»Maria, glaube mir, ich bin erledigt und kraftlos wie ein Sack Korn. Außerdem beginnt gleich das Fest und ich muss rechtzeitig bei meinem Meister sein, um ihn zu bedienen. Vielleicht findet sich danach Zeit«, antwortete er und drückte sie behutsam von sich.

»Der Abend ist noch schrecklich lang, du weißt nicht was dir jetzt entgeht«, schmollte sie und schob ihre Unterlippe vor.

»Doch, weiß ich. Geh schon, ich bitte dich. Wir sehen uns später, versprochen.«

»Kein Wunder, dass dich manche Honigzunge nennen. Du bist so süß, wenn du lügst. Aber ich nehme dich beim Wort, und wehe, wenn mir nach dem Fest eine zuvorkommt«, sagte sie schelmisch lächelnd, küsste ihn flüchtig auf die linke Wange und lief hinaus.

Walter schüttelte den Kopf. Irgendwann sollte ich mich vielleicht auf eine Einzige festlegen, bevor sie sich gegenseitig die Haare ausreißen.

Er wandte sich wieder den Pferden zu und füllte ihre Fresströge mit Hafer.

Nach der Arbeit rieb er sich in seiner Kammer im Gesindehaus mit der Heilsalbe ein, kleidete sich in ein Gewand aus blau gefärbten Leinen und schlenderte hinüber zum Palas, durch dessen geöffnete Tür leise Melodien von Harfen, Flöten und Lauten zu hören waren.

Sein Vater stand rechts vom Eingang unter einem der hohen eisernen Kerzenleuchter mit acht Armen und dicken Kerzen aus Bienenwachs, von denen zwei Dutzend den Saal des Palas erhellten.

Hugo von Westereck war von kräftiger Gestalt und einen halben Kopf kürzer als sein Sohn. Ein kleiner Bauch wölbte sich über seinem Ledergürtel, der ein prächtiges dunkelrotes Gewand aus flämischen Tuch mit goldenen Borten zusammen hielt. Sein dunkles, welliges Haar war graumeliert, der kurzgeschnittene Kinnbart umrahmte ein fast faltenloses, gebräuntes Gesicht.

Die graublauen Augen blickten gütig und seine schmalen Lippen verbreiterten sich oft zu einem Lächeln, das kleine Grübchen in die Mundwinkel setzte.

Er war ein umsichtiger und bedächtiger Mann, zuweilen streng und dennoch leutselig. Treue schätzte er außerordentlich, ebenso wie Mut und Tapferkeit. Auf der Burg, erzählte man sich, nach dem Tod seiner Frau Irmentraud, im Geburtsjahr von Walter, hätte er nie wieder ein Weib berührt, so herzlich habe er sie geliebt.

»Willkommen, mein Sohn. Vogt Hildebrand erzählte mir, du machst große Fortschritte im Umgang mit Pferd und Waffen. Wie geht es dir?«

»Es geht mir gut, Vater. Mein Rücken schmerzt, ich bin bedeckt mit Abschürfungen und Striemen. Und mir scheinen zwei Zehen abgefroren zu sein. Mein Meister nimmt seine Aufgaben sehr ernst und ich ihn«, antwortete Walter mit einem Augenzwinkern.

Hugo lachte und wies an die Stirnseite der mitten im Saal aufgebauten Tafel. »So soll es sein. Er wartet schon auf dich. Nimm an seiner Seite Platz und feiere mit uns.«

»Ist mein Bruder Hermann heute auch hier?«, fragte Walter. Ein Schatten huschte über das Gesicht seines Vaters. »Es geht ihm heute recht gut, aber er ist zu schwach und kann seine Bettstatt nicht verlassen.«

»Dann werde ich ihm später etwas von der Tafel bringen. Das wird ihn aufmuntern.«

»Du bist ein guter Sohn und Bruder. Er wird sich freuen«, lobte Hugo. Walter verbeugte sich und schritt hinüber zu Hildebrand.

In der Mitte der großen Halle stand eine lange, üppig mit Speisen und Getränken beladene Tafel. Um sie herum drängten sich über hundert Gäste auf Bänken, Kisten und kniehohen Fässern, die als Sitzgelegenheiten dienten. Hildebrand saß rechts der Stirnseite, die dem Hausherrn vorbehalten war, und trank in langen Zügen unverdünnten Zimtwein aus einem Tonkrug. Ihm gegenüber hatte der feiste Burgkaplan Reinhold Platz genommen, dessen dicke Finger vor Fett trieften und der gierig seine schiefen Zähne in einer knusprigen Gänsekeule vergrub.

Ansonsten hielt Hugo von Westereck wenig von einer Rangordnung bei Tisch. Einige Ritter, die seine umliegenden Besitzungen verwalteten, Baumeister, Steinmetz, Zimmermann, Schmied und Seiler saßen einträchtig und froh gelaunt neben Freisassen, Hörigen, Waffenknechten und Knappen. Frauen, Mägde und Dienerschaft hatten ihren eigenen Tisch neben dem Ausgang, an dem es lautstark hoch herging.

Ein Ochse, zwei Dutzend Hammel, zehn Gänse und etliche Hühner ließen ihr Leben für das Festmahl. Die hier versammelten Menschen waren glücklich, den harten Alltag und strengen Winter für eine Weile zu vergessen und sich den Bauch mit seltenen Fleischgenüssen und frisch gebackenem Brot vollzuschlagen.

Wein und Bier flossen im Übermaß durch die durstigen Kehlen, die Spielleute luden zum Tanz und ausgelassen klatschten, stampften und schrien die Gäste im Takt der Trommeln und Dudelsäcke.

Zu vorgerückter Stunde trat ein dürrer, blonder Mann an die Stirnseite der Tafel. Hugo von Westereck erhob sich, breitete die Arme aus und bat um Ruhe. Erwartungsvoll verstummten die Gäste, einige rülpsten verhalten.

»Ich freue mich, dass es euch so gut geht an diesem Tage, wo vor langer Zeit die heiligen drei Könige aus dem Morgenland dem Weg zur Wiege unseres Herrn Jesus fanden«, rief Hugo in die Runde und fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Das heutige Fest zu Ehren des Heilands soll nun von einem außergewöhnlichen Mann gekrönt werden. Hört jetzt mit mir, welche Lieder uns der berühmte Sänger Heinrich von Morungen vorstellen wird.«

Beifall brandete auf, während sich der in ein dunkelgrünes Gewand gekleidete Spielmann auf eine hölzerne Kiste stellte. Auf dem Kopf trug er ein scharlachrotes Barett, an dessen Enden drei silberne Schellen leise klingelten, als er sich nach allen Seiten verbeugte. Unter dem linken Arm trug er eine Laute und strich langsam über ihre Saiten.

Die Gäste waren überrascht und erstaunt. Einen berühmten Troubadour wie ihn sah man nicht alle Tage. Wissenswerte Neuigkeiten berichteten diese fahrenden Sänger, zumeist vom Hof des Kaisers, von Heldentaten der Herzöge und edlen Ritter. Sie überlieferten kundig Sagen und Legenden aus grauer Vorzeit und waren berüchtigt für unzüchtige Spottlieder.

»Zuerst meinen Dank an Euch, Herr Hugo«, rief Heinrich. Seine Stimme klang tief und samtig, sie war dennoch bis in den letzten Winkel des stillen Festsaals zu hören. »Seit gestern weile ich auf Eurer Burg. Ich habe mich umgehört und darf Euch sagen, Ihr seid gesegnet mit all diesen fröhlichen, gottesfürchtigen und fleißigen Leuten, die treu zu Euch stehen. Auch von Eurem jüngsten Sohn habe ich vernommen, der noch gar nicht so lange bei Euch ist. Doch er ist wohlgeraten, wie ich sehe.« Der Spielmann lächelte und deutete eine Verbeugung in Walters Richtung an.

»Ich hörte auch, obwohl er in einem Kloster aufgewachsen ist, hat er wahrlich hier schon reichlich Bekanntschaft mit den süßen, weltlichen Glocken der Versuchung gemacht«, setzte er hinzu und wies mit einer ausladenden Handbewegung und breitem Grinsen zum Tisch der Frauen und Dienstmägde.

Ohrenbetäubendes Gelächter hallte von den Mauern wider. Walter lief rot an, ebenso wie einige der jungen Mädchen.

Beschwichtigend winkte der Spielmann der grölenden Menge zu. »Kein Grund zur Sorge, es hätte ihn schlimmer treffen können! So will ich dem jungen Herrn ein Lied singen über die Minne eines armen Ritters zu einer hohen Dame. Merkt auf, Ihr Leute, die Geschichte ist wahr und hat sich so zugetragen!« Er schlug die Saiten an und sang:

 

»Ein Ritter wollte geben,

der Dame hold und fein,

sein Leib und auch sein Leben,

nur um ihr nah zu sein.

 

Der Held litt mannigfaltig Pein,

er um das Weib sich haut.

Ihre Seele war wohl noch zu rein,

auch war sie angetraut.

 

Die Liebe brannte lichterloh,

allein es konnt nicht sein,

trotzdem war ihm ums Herz so froh,

nachts ließ sie ihn herein.

 

Hier wollt sie ihm nun sagen,

umsonst sei seine Qual,

nie würde sie es wagen,

zu täuschen den Gemahl.

 

Da fiel er vor ihr nieder

und versprach ihr in die Hand,

er käme niemals wieder

und weiche aus dem Land.

 

Jetzt wollt er grade gehen,

weil nichts er richten kann,

erschrocken musst er sehen,

da draußen stand ihr Mann.

 

Der Ritter ward getroffen,

von kaltem Stahl ins Herz.

Die Augen starr und offen

verschied er mit viel Schmerz.

 

Der Ehemann, noch voller Grimm,

griff nun die Dame an,

ihr Kopf fiel auf den Boden hin,

das war nicht wohlgetan.

 

Denn Jahre nach der schlimmen Tat

ritt zum Turnier er fort,

er erntet dort die böse Saat,

den Lohn für feigen Mord.

 

Fast hundert Ritter schmähten ihn,

ein jeder auf dem Schild,

sie zeigten, ihm wird nie verziehn,

der Dame Kopf als Bild.

 

So floh er weit in fremdes Land,

wollt Zuflucht sich erbitten.

Selbst da verfolgte ihn die Schand

und ward nicht wohl gelitten.

 

Dort starb er mit umwölkten Sinne,

in Schande, wie er war,

seht solche Macht hat holde Minne,

dank edler Ritterschar!«

 

Nachdem der Spielmann sein Lied beendet hatte, herrschte tiefe, fast andächtige Ruhe im Saal. Dann brauste tosender Beifall los und schmunzelnd verbeugte sich der Troubadour.

Walter war einer der Ersten, die aufsprangen und um weitere Lieder baten. Sein Vater schaute zu Hildebrand hinüber, der ihm zuzwinkerte und sah dann seinen Sohn nachdenklich an. Der alte Waffenmeister hatte ihm von Walters Liebesabenteuer berichtet. Er hoffte, dass sich sein Spross nicht in irgendeine Tochter oder gar in eine Frau seiner Gefolgsleute verrannte. Der Sänger lobte die hohe Minne in seinem Lied, aber der junge Ritter in seinen Versen fand den Tod.

Sein Burgvogt würde ein waches Auge auf seinen Knappen haben. Hildebrand hatte vor langer Zeit erfahren, was es hieß, sich einer hochgestellten Dame zu nähern, wie er ihm einmal erzählt hatte. Allerdings ließ nicht er, sondern einer seiner Nebenbuhler das Leben. Daraufhin musste er die Heimat verlassen und Buße im Heiligen Lande verrichten, was ihm zwar Vergebung, doch letztlich keinerlei Gewinn eingebracht hatte.

Hugo lehnte sich zurück und trank einen Schluck Wein. Sein Gesicht verhärtete sich für einen Augenblick und er starrte auf seinen blitzenden Dolch, der vor ihm auf einem Holzteller lag.

Der Krieg wird kommen, wenn der Winter geht. Ich brauche einen vollwertigen Kämpfer und Erben an meiner Seite, falls Graf Lauenau seine scharfen Krallen ausfährt und landhungrig an Westerecks Grenzen kratzt.


 

                                                II

 

Der dunkle Kreis inmitten der hellgelben Scheibe aus geflochtenen Strohruten war aus der Entfernung von hundert Schritten kaum zu erkennen. Drei Pfeile steckten in ihm und ein vierter schlug mit einem trockenen Ploppen ein.

»Wenn Euch Euer Vater hier sieht, wird er wieder toben wie ein wilder Stier. Und … es ist verflucht kalt!«

Ungerührt der Klagen ihrer besorgten Dienerin legte Jolande einen neuen Pfeil auf die Bogensehne. »Dann spricht er wenigstens mit mir. Er hat mir das Jagen verboten, nicht das Bogenschießen. Ich übe hier, seit ich denken kann. Nur weil er sich nach etlichen Jahren entschlossen hat bei uns, statt auf Burg Lauenau zu wohnen, werde ich nicht damit aufhören. Und stell dich nicht so an, es ist warm unter deinem Fellmantel.«

Sie spannte den Bogen, legte kurz an und gab die Sehne frei. Der Pfeil schnellte sirrend auf die Zielscheibe zu.

Irmtraud, die schon ihr halbes Leben in Diensten des Lauenauer Grafengeschlechtes stand, kniff die Augen zusammen und die dünnen Lippen mürrisch nach unten verzogen sagte sie: »Wieder ein Treffer. Graf Konrad wird Euch erneut hart bestrafen, wenn Ihr Euch lieber mit Waffen, als mit Wollstickerei beschäftigt.«

Unsicher schaute Jolande hinauf zum Bergfried der Burg Hohnstein, der aus rostrotem Felsgestein emporwuchs und dessen Zinnen sich in den bleigrauen Himmel krallten.

»Der Alte ist beschäftigt. Wilfried ist bei ihm, sie halten schon den ganzen Morgen Kriegsrat mit ihren Gefolgsleuten. Wenn er unbedingt verzierte Gewänder haben will, meine Mutter wird ihm sicher freudig welche fertigen«, meinte sie leichthin.

»Ihr seid ein junges, edles Fräulein, kein Ritter wie Euer Bruder Wilfried«, antwortete Irmtraut und stemmte die Hände in ihre breiten Hüften. »Und wie Ihr ausseht…wieder nur Euer grünes Mieder über dem Wollkleid und keine Kopfbedeckung. Sie werden mich dafür verantwortlich machen, wenn Ihr Euch erkältet!«

»Er ist mein Halbbruder, der Sohn meines Vaters, nicht meiner Mutter, wie du weißt. Grün ist meine Lieblingsfarbe und ich habe genug Haare auf dem Kopf, im Gegensatz zu dir«, versetzte Jolande ärgerlich und griff sich an den dicken, rabenschwarzen Zopf, der ihr über die rechte Schulter hing. »Genug für heute, es ist fast Mittag, ich muss etwas essen«, setzte sie hinzu und schlitterte vorsichtig das abschüssige Felsplateau unterhalb der Burg hinab, um die Pfeile zu holen.

Nachdenklich sah die Dienerin ihr hinterher. Der Graf und sein Sohn waren sehr um Jolandes Wohlergehen besorgt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Der schlaue Konrad suchte nach einer passenden Gelegenheit sie gewinnträchtig zu verheiraten, der stolze Wilfried vergötterte seine drei Jahre ältere Halbschwester seit frühester Kindheit. Ihre gottesfürchtige Mutter Lutradis, eine wortkarge, verblühte Schönheit, die Jolande kurz nach der Heirat mit dem Grafen zur Welt brachte, versuchte ihr Kind so lange wie möglich bei sich zu behalten. Sie war ihr kostbarster Besitz, nachdem ihr Wittum, die Burg Hohenstein samt umliegenden Ländereien, durch die Vermählung dem Lauenauer zugefallen war.

Kein Wunder, dass die Grafentochter noch ohne Mann war, obwohl sie das heiratsfähige Alter längst erreicht hatte.

Vielleicht war das der Grund, warum die stets fröhliche und selbstbewusste Jolande seit dem letzten Sommer immer stiller und weitaus zurückhaltender geworden war, nachdem ihr Vater die Werbung eines hübschen, aber mittellosen Ritters aus Nordhausen brüsk zurückgewiesen hatte.

»Du schläfst mit offenen Augen, Irmtraut«, riss Jolande die Dienerin aus ihren Gedanken und drückte ihr Pfeile und Bogen in die Hände. »Gib das dem Hauptmann der Wache zurück. Besorge uns ein wenig Essen und bring es in mein Zimmer. Ich gehe mich umziehen.«

»Aber Ihr sollt doch mit Eurer Mutter …«

»Mit Gottes Hilfe kann sie selbst den Löffel heben«, schnitt ihr Jolande das Wort ab. »Sag ihr, ich hätte Bauchgrimmen. Mir ist nicht nach Gesellschaft.«

Wie so oft nicht, dachte Irmtraud und deutete eine Verbeugung an.

Jolande raffte ihre Röcke und stapfte durch harschen, knöcheltiefen Schnee hinauf zur Burg. Der Weg war kurz, aber steil, keuchend erreichte sie das Torhaus. Es war offen, die beiden Torflügel aus groben Eichenholzbohlen lehnten an den Innenwänden und ein hochgezogenes, eisernes Fallgitter zeigte oben im gemauerten Rundbogen seine spitzen Zähne.

Sie klopfte sich den Schnee von den nassen Stiefeln aus Rehleder. Ein Wächter in fleckigem Filzwams, mit kurzem Speer in der Hand, der sich wegen der Kälte in die kleine Wachkammer links neben der Einfahrt zurückgezogen hatte, hörte das Geräusch und öffnete die Tür einen Spalt. Er nickte kurz und klappte sie wortlos wieder zu.

Der Weg durch die Vorburg, vorbei an den Ställen, Mannschaftsunterkünften und Wirtschaftsgebäuden hinauf zur Hauptburg war um diese Zeit menschenleer. Sie trat an die westliche, brusthohe Burgmauer und verschnaufte einen Moment.

Sie liebte es, von hier oben hinab ins weitläufige Tal zu blicken, durch das sich der kleine Hardtbach schlängelte.

Dort unten verlief der alte Königsweg, der von Nordhausen bis nach Halberstadt führte. Weit konnte man in das hügelige Harzvorland sehen, wo sich die Berge gleich grauen Wellen bis zum Horizont hin abflachten. Das Meer hatte sie noch nie gesehen, doch fahrendes Volk, Spielleute und Händler, die selten genug den Weg auf die Burg fanden, erzählten von der Freiheit der See, fernen Ländern, andersfarbigen Menschen und unbekannten Tieren.

Jolande seufzte tief, wandte sich ab und durchquerte ein weiteres Tor, das weitaus kleiner wie das Erste war, um in den Innenhof zu gelangen. Links erhob sich ein dreigeschossiger Palas mit Schieferdach. In ihm befand sich ein großer Saal, fast sechzig Fuß lang und zehn Fuß hoch. Darüber die Wohnräume der Herrschaft und über ihnen kleine Zimmerchen des Gesindes.

Der Palas lehnte sich an den mächtigen, viereckigen Bergfried aus groben roten Porphyrsteinen an, der fast fünfzig Fuß in die Höhe ragte. Rechts stand ein Gebäude aus strohgedecktem Fachwerk, aus dessen Schornstein fetter Qualm langsam in die Höhe stieg. Dort wurde das Mittagsmahl in der Küche zubereitet.

Jolande öffnete eine Seitentür des Palas und erklomm die steile Holztreppe hinauf zu den Wohnräumen. Beinahe hätte sie aus Gewohnheit die Tür zu ihrem ehemaligen Zimmer geöffnet, im letzten Moment zog sie ihre Hand zurück. Seit ihr Vater im Frühling seinen Wohnsitz dauerhaft auf Hohnstein nahm, gehörte ihm das geräumige Gemach. Seitdem durfte sie nur eine scheußlich kleine Kammer bewohnen, die ein Stockwerk höher lag.

Missmutig wollte sie sich abwenden, doch die Tür war nur angelehnt und sie vernahm laute Stimmen. Sie lugte durch den Spalt und sah ihren Vater und Wilfried einander gegenüber auf schweren Holzstühlen sitzen. Sie waren allein, ihre Gefolgsleute hatten sich bereits verabschiedet. Jolande verharrte und lauschte neugierig.

»…Herzog Heinrich ist ein Löwe ohne Zähne. Die hat ihm Kaiser Rotbart schon vor Jahren gezogen und ihn ins Exil geschickt, aus dem er schnurstracks zurückkehrte, kaum dass Barbarossa ins Heilige Land aufgebrochen war. Seine Erfolge des letzten Herbstes werden nur von kurzer Dauer sein.

Die Stadt Bardowick hat er verwüstet, sie war nur schwach befestigt und Lübeck wurde von Söldnern, Salzhändlern und Gerbern verteidigt, die tapfer wie Küchenschaben waren.«

Graf Konrad von Lauenau rümpfte die Nase und lehnte sich in seinem hohen Stuhl zurück. Seine grüngelben Augen musterten seinen Sohn, der zornig aufblickte. »Ich bin bei der Verteidigung Lübecks zum Ritter geschlagen worden!«

»Ja, ja … Graf Adolf von Dassel gab dir die Sporen. Es gehört mehr zu einem Ritter, als drei Bauerntölpeln die Schädel einzuschlagen.«

»Es waren starke Ritter, die ich im Kampf besiegt habe! Drei gegen einen und ICH habe sie getötet!« Wilfried schoss Röte in das bartlose, kantige Gesicht.

»Du hast ihnen unritterlich die Köpfe abgeschlagen, statt gutes Lösegeld für sie zu verlangen. Mit blutigen Händen, doch eingezogenen Schwänzen habt ihr die Stadt dem Welfenherzog dennoch übergeben müssen. Welch gewinnbringender Heldenmut.«

Die höhnischen Worte hingen giftig in der Luft. Wilfried biss die Zähne zusammen und schwieg. Sein Vater galt früher als zäher Kämpfer, doch mittlerweile war seine Verstand schärfer als sein Schwert. Er verachtete Schwäche und Wilfried fühlte sich trotz des Rittertitels wie der geringste Stallknecht in seiner Gegenwart. Die Belagerung von Lübeck endete durch Fürbitten der Bürger mit einem freien Abzug der kaisertreuen Verteidiger.

Er selbst hätte nur zu gern weitergekämpft, aber der Befehlshaber, Graf Adolf, entschied sich anders.

»Wie dem auch sei. Ich habe Kunde, dass die Adligen aus Holstein sich vom Welfen wieder abgewendet haben. Er wird kaum Männer für einen Feldzug im Frühjahr zusammenbringen. Deshalb sollten wir uns ein großes Stück seines Kuchen vor unseren Toren sichern. Wir werden uns die Burg Westereck und das umliegende Land holen. Sie gehört zum Erbbesitz des schwachen Herzogs und liegt genau zwischen Hohnstein und unserem Gebiet um Lauenau.«

Konrad griff nach dem tönernen Becher Wein, der vor ihm auf einem kleinen Tisch stand und trank in langsamen, genussvollen Schlucken.

»Das wird aber auch Zeit. Gebt mir hundert Mann und ich lege sie in Schutt und Asche.« Wilfried richtete sich auf. In seine Augen funkelte Gier.

»Unsinn. Ich verbrenne nicht das Haus, in dem ich wohnen will. Warum sonst hätte ich vorerst meinen Sitz hier auf diesem Rattenfelsen genommen.«

Verächtlich schaute er sich im Raum um. »Hugo von Westereck hat seine Burg stark ausgebaut, sie ist viel größer und mächtiger als Hohenstein, die Besatzung zahlreich und ihrem Herrn treu ergeben. Nicht mal tausend Krieger könnten sie einnehmen.«

Graf Konrad faltete die altersfleckigen Hände unter dem graubärtigen Kinn und sah seinem Sohn fest in die Augen. Wilfried hielt dem ausdruckslosen Blick nur kurz stand und antwortete leise: »Ich kreise sie ein, fange und häute ein paar seiner Getreuen vor den Mauern. Anschließend schleudere ihre Gliedmaßen mit einer Blide vor die Füße der Besatzung. Über kurz oder lang werden sie sich ergeben oder langsam verhungern.«

Der Graf runzelte die Stirn. »Und wie lange soll das dauern? Das ganze Frühjahr, den Sommer und den Herbst? Die Zeit und das Geld die Söldner dafür bezahlen, haben wir nicht. Mir scheint manchmal, dein Verstand ist so klein wie deine Mordlust groß ist. Du hast deine Mutter bei deiner Geburt schon umgebracht. Nein, so wird das nichts!«

Wilfried war kurz davor seinem Vater die kalten Augen mit beiden Händen in dessen faltigen Schädel zu drücken. Mühsam beherrschte er sich, senkte den Kopf und stierte voller Hass auf den mit Binsen bestreuten Steinboden. Das Blut pochte heftig in seinen Adern, kalter Schweiß trat ihm auf die hohe Stirn und verklebte die lockigen, dunklen Haare an beiden Schläfen.

»Du musst lernen dich zu mäßigen, Sohn«, zischte Konrad, der die Wut in Wilfried hochkochen sah. »Herrschen kommt von Beherrschen. Wenn du mein Erbe sein willst, musst du die Dinge mit Bedacht und Ruhe vorantreiben.« Etwas versöhnlicher fuhr er fort: »List ist besser als sinnloses Gemetzel. Ohne den Leitwolf zerfällt das Rudel, denn ohne Ritter Hugo von Westereck zerstreuen sich Anhänger und Kriegsknechte wie abgefallenes Herbstlaub. Seine Söhne sind schwach, der Ältere gebrechlich. Deshalb wurde der Jüngere aus dem Kloster geholt und zum Knappen gemacht. Der ist noch zu jung und zu unerfahren, also keine Gefahr für uns. Du bist ihm sicher begegnet, während du die zwei Jahre im Kloster Loccum warst, um dort Latein, Rechnen und Schreiben zu lernen. Sein Name ist Walter.«

Wilfrieds Gesicht verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse, er nickte. »Den kenne ich. Ein aufsässiger, dürrer Kerl, der seinen Platz in der Rangordnung nicht kannte. Ich habe ihn mehrmals verprügelt und ihm den Daumen seiner linken Hand ausgekugelt. Danach war er für Wochen im Hospital.«

»So, so … mehrmals? Wahrlich, stolze Männer sind das, diese Westerecks. Deshalb wird mein Plan gelingen. Eine Woche nach Ostern werden wir hier vor der Burg ein Turnier veranstalten. Dazu lade ich alle Edlen, die ich kenne. Anhänger des Herzogs und Kaisertreue, Welfen wie Staufer. Ich lobe einen hohen Turnierpreis aus und jeder Ritter, der etwas auf sich hält, wird kommen. Nirgends ist so viel Ruhm, Ehre und Geld zu gewinnen wie bei einem großen Lanzenstechen, nicht mal in einem gottverdammten Krieg. Wenn er sein Gesicht nicht verlieren will, muss auch Hugo von Westereck teilnehmen.«

Graf Konrad hielt für eine bedeutungsvolle Pause inne, dann beugte er sich vor. »Du bist leider äußerst ungeschickt in Herrschaftsdingen, doch ich weiß, wie hervorragend du mit Pferd, Lanze und Schwert umgehen kannst. Das habe ich wohl bemerkt. Du wirst ihn aus dem Sattel stoßen und gefangen nehmen. Sein Lösegeld wird Burg Westereck sein und niemand wird dagegen aufbegehren, wenn wir ihn ehrenhaft auf einem Turnier besiegen.«

Konrad hob mahnend einen Zeigefinger in Wilfrieds Richtung: »So und nicht anders bekommt man eine Burg ohne sinnloses Blutvergießen!«

Sein Sohn hatte gespannt zugehört. Ein durchtriebener Plan. Nicht zu Unrecht nannte man den alten Grafen auch den roten Fuchs. Die vollkommen unerwartete Anerkennung seines Vaters gab ihm Selbstvertrauen zurück.

»Ich werde Euch nicht enttäuschen, verlasst …« Ein scharrendes Geräusch vor der angelehnten Tür ließ ihn aufhorchen. Er sprang auf, trat hinaus und spähte in den Gang. Eine schwarze Katze mit weißen Pfoten sah ihn mit runden grünen Augen an und miaute.

Er drehte sich um und erklärte abfällig: » Nur eine dieser unnützen Katzen Eures Weibes. Sie hat so viele, man stolpert auf Schritt und Tritt über sie.«

»Besser sie kümmert sich um Katzen als mein Geld für ihre kostspielige Klosterstiftung in Ilfeld zu verschleudern. Außerdem fangen sie Ratten und Mäuse, die es im Winter zuhauf auf die Burg zieht. Komm wieder herein und schließ die Tür«, tönte es aus dem Zimmer.

Jolande stand ein Stockwerk höher auf dem schmalen Treppenabsatz und hörte erleichtert, wie sich die Tür schloss. Leise atmete sie die angehaltene Luft aus und schlich den kleinen Flur entlang.

Ihr ungeliebtes Zimmer war so kalt wie der klirrende Wintertag draußen, denn sie hatte vergessen, den Fensterladen am Morgen zu schließen. Ein mit Tierhaut bespannter Rahmen klemmte in dem kleinen Fenster und tauchte das weiß gekalkte Gemach in trübes Licht. Ein Hochbett in der Mitte, bedeckt mit grauen Wollkissen und sandfarbenen Schaffellen, nahm fast den gesamten Raum ein. Daneben standen eine grün bemalte Holztruhe sowie ein Hocker aus Kiefernholz.

Sie drückte die Tür hinter sich zu und seufzte, kleine Atemwölkchen hingen vor ihrem Mund.

Nicht auszudenken, wenn mich Wilfried beim Lauschen erwischt hätte. Sie fürchtete seine harten Hände, die in jüngster Vergangenheit immer wieder blaugrüne Flecken auf ihrer weißen Haut hinterlassen hatten. Sie kannte weder ihren Vater noch ihren Halbbruder besonders gut. Er wuchs in der Burg Lauenau auf, dem Stammsitz der Familie, sie hier auf Hohnstein. Wilfried und sie sahen sich in ihrer Kindheit und Jugend wenige Male im Jahr, meist zum hohen Fest der Geburt Jesu. Ihr gemeinsamer Vater besuchte seine zweite Frau selten, zumeist um ihren beträchtlichen Besitz zu verwalten, den er durch die Eheschließung mit ihr gewonnen hatte.

Manchmal begleitete Wilfried den Grafen und sie erinnerte sich, wie er sie immer mit begehrlichem Glitzern in den Augen anstarrte, als wäre sie ein kostbares Juwel. Sie blieben sich fremd.

Im Frühling des letzten Jahres zog ihr Vater dauerhaft auf Hohnstein ein. Als Grund nannte er Frau und Tochter, er wolle näher bei seinen engsten Getreuen wohnen, solange der Welfenherzog Heinrich das Land im Norden verwüstete.

Wilfried war längst Knappe und vom benachbarten Ritter Ludwig von Lohra in Dienst genommen worden, nur einen Tagesritt entfernt, und war seitdem öfter Gast auf Hohnstein.

Bis zu diesem Zeitpunkt fanden sich keine Männer wie er auf Hohenstein, nur ein paar struppige Burgwächter, schmutzstarrende Knechte und ab und an tumbe, ungewaschene Bauernburschen mit schiefgewachsenen Zähnen, die Lebensmittel auf die Burg brachten.

Wilfried dagegen war hochgewachsen, breitschultrig und hatte blondes lockiges Haar. Seine Stimme war tief und wie sein Vater duldete er keinen Widerspruch von Untergebenen, die unterwürfig all seine Befehle ausführten.

Doch in ihrer Anwesenheit wurde er seltsam still. Schnell bemerkte sie, welche Macht ein flatternder Augenaufschlag oder ein tiefer Atemzug, der ihre festen Brüste in einem eng geschnürten Mieder nach oben hob, auf ihn ausübte. Zum ersten Mal im Leben fühlte sie sich wie eine richtige Frau und genoss es.

Bis zu diesem Sommer.

Jolandes presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, während sie die eisenbeschlagene Holztruhe öffnete, die ihre Kleider barg und erinnerte sich an jenen verhängnisvollen Tag, an dem sich ihr Leben von Grund auf änderte, nachdem Wilfried sie beim Baden in ihrem Weiher überrascht hatte.

Sie war allein, wähnte sich sicher und unbeobachtet an diesem stillen Ort, den sie auf einem ihrer heimlichen Ausritte gefunden hatte. Ein kleiner Teich, mitten im dichten Wald, mit Seerosen halb bedeckt, klarem Wasser und feinsandigem Grund. Manchmal, wenn die Tage heiß waren, badete sie dort.

So auch damals. Als sie summend aus dem Wasser ans Ufer stieg, stürzte er sich auf sie wie ein hungriges Raubtier. Er war nackt wie sie, seine dunklen Locken hingen ihm schweißnass und wirr im Gesicht, seine Augen glühten vor Gier. Er stieß sie in den Ufersand und war sofort über ihr.

Seine feuchten Lippen und klammernden Finger waren überall. Mit roher Gewalt drängte er sein steinhartes Glied zwischen ihre verkrampften Beine. Verzweifelt hatte sie sich gewehrt, wie von Sinnen geschrien, gekratzt, gebissen, getreten, doch gegen seinen muskulösen Körper und seine rücksichtslosen Schläge war sie machtlos.

Erst ein faustgroßer Stein, den sie in ihrer höchsten Not zu fassen bekam, beendete den Vergewaltigungsversuch. Mit letzter Kraft traf sie Wilfrieds Schläfe, der sofort ohnmächtig zur Seite fiel. Weinend vor Angst, Scham und Wut warf sie ihre Kleidung über, schwang sich aufs Pferd und ritt im gestreckten Galopp zurück zur Burg.

Völlig aufgelöst kam sie in ihrem Zimmer an und lief verzweifelt auf und ab. Blutschande, das unwirkliche Wort wirbelte in ihrem Kopf umher und ließ sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihr Halbbruder schien vollkommen verrückt geworden zu sein, doch sie ahnte, dass sie daran nicht unschuldig war.

Den unzüchtigen Vorfall ihrem lieblosen Vater zu berichten, der sie wie einen gewinnträchtigen Besitz unter Verschluss hielt, würde sie niemals wagen. In einem der wenigen Gespräche, die er mit ihr führte, drohte er unmissverständlich an, er würde sie kurzerhand in ein Kloster stecken, wenn sie nicht auf ihre Jungfräulichkeit achtgeben würde.

Die hatte sie zum Glück nicht verloren, doch auch ihre strenggläubige Mutter würde ihr die Schuld an dem Geschehen geben. Sie wurde nie müde, Jolandes unzüchtige, enge Kleidung anzuprangern, die ihre Weiblichkeit zu offenherzig betonte.

Ohne Vorankündigung stürmte Wilfried plötzlich in ihr Zimmer. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, von seiner linken Schläfe zogen sich dünne Blutfäden hinunter zur Wange. In der einen Hand hielt er eine weiße Katze in die Höhe, die laut maunzte und zappelte.

Mutters Lieblingskatze, durchzuckte es sie, bevor er Jolande mit der anderen Hand an die Kehle fuhr, sie an die Wand drängte und zudrückte. Feurige Kreise tanzten vor ihren Augen und sie röchelte nach Luft.

»Sieh sie dir an«, fauchte Wilfried und hielt die Katze vor ihr entsetztes Gesicht, »sie ist wie du! Hübsch, nicht wahr? Sie hat ebenso schöne und große Augen, schnurrt dauernd um mich herum und ist schwer zu fangen. Genau wie du! Doch nicht für mich! Eines Tages wirst du mir ge … «

Er senkte den Kopf, löste seine Hand abrupt von ihrem Hals, packte das Tier und brach ihm mit einem grässlichen Knacken das Genick. Dann schleuderte das Fellbündel durch das offene Fenster hinaus.

»Zu Niemandem ein Wort! Oder genau das wird auch mit dir passieren!« Wilfried drehte sich um. Wutschnaubend verließ er mit langen Schritten ihr Zimmer.

Entsetzt und sprachlos rutschte sie an der kalten Steinwand hinab bis auf den Boden und hatte keine Tränen mehr.

Zorn stieg in ihr hoch und verdrängte die Angst. Zum ersten Mal dachte sie an eine Flucht von Hohnstein.

Danach jeden gottverdammten Tag.

Wilfried unternahm keine weiteren Versuche, sie unsittlich zu berühren. Er verhielt sich, als wäre nichts geschehen, doch in seinen Augen glomm begehrliches Feuer auf, sobald sie in seiner Nähe war. Jolande versuchte, sich wenig anmerken zu lassen, scherzte mit dem Gesinde, lachte mit ihrer Mutter, trällerte auf dem Hof, wenn sie ihm begegnete, und würdigte ihn keines Blickes. Ihr vorgetäuschtes Selbstbewusstsein trug sie wie eine schützende Rüstung, doch Furcht schnürte ihr oftmals unvermittelt die Kehle zu, als ob seine Hand sich wieder um ihren Hals schließen würde.

Ihm in der engen Burg aus dem Weg zu gehen, war unmöglich. Sie nutzte jede Möglichkeit, sich seiner Gesellschaft zu entziehen. Wie heute täuschte sie Unwohlsein vor, um nicht mit Wilfried und ihrer Familie im Palas essen zu müssen, obwohl es der einzige Raum war, der über einen wärmenden Kamin verfügte.

Jolande zog die dicke graue Wolldecke aus der Kleidertruhe hervor und wickelte sich darin ein. Anschließend setzte sie sich auf ihr hohes Bett und wartete auf Irmtraud, die ihr hoffentlich bald heiße Suppe mit einem großen Stück Brot bringen würde.

Dieses Turnier, von dem sie heute gehört hatte, barg einen Hoffnungsschimmer. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Die wohltuenden Gedanken, sich ihrem trostlosen Gefängnis und ihrem furchteinflößenden Halbbruder durch Flucht zu entziehen, nahmen Gestalt an. Das Kampfspiel würde viele Menschen nach Hohnstein locken. Ritter, Knappen, edle Frauen und Mädchen, Minnesänger und Kaufleute. Es könnt einige Gelegenheiten geben, sich am Ende des Lanzenstechens unerkannt unter das abziehende Volk zu mischen.

Jolande wusste, wo sich das Kästlein aus poliertem Eichenholz befand, in der ihre fromme Mutter einige schwere Ledersäckchen mit Silbermünzen verwahrte. Für Notfälle und ihre Klosterstiftung, wie sie ihr einmal anvertraut hatte, als sie sich wieder zu viel vom heißen Zimtwein gegönnt hatte, um ihre Einsamkeit zu ertränken. Ausreichend Geld für ein neues, sorgenfreies Leben.

Ihr Entschluss stand fest: Sie würde fliehen und den einzigen Mann suchen, der ihr je etwas bedeutet hatte. Mit dem sie in ihren verblassenden Erinnerungen unsagbar viel lachte, der sich väterlich um sie kümmerte, ihr das Reiten, Bogenschießen und Jagen lehrte. Und unvermittelt vor langer Zeit für immer verschwand.




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